Die Verhaftung

Mit dem ersten Tag von Wärme und ungehemmtem Sonnenschein setzten meine Sommergewohnheiten ein. So öffnete ich nach dem Aufstehen und vor dem Schlafgehen das kleine Fenster, so zog ich am Nachmittag die Vorhänge vor das kleine und das große Fenster, denn von ungefähr zwei Uhr an begann der Sonnenschein in die Wohnung zu kriechen, und gegen fünf verschwand die helle Flut hinter dem Haus gegenüber, das siebenstöckig war, das verschiedene Ämter und Ministerien enthielt sowie, mir genau gegenüber, im Erdgeschoss und ersten Stock eine Polizeiwache. Da ich eine Einzimmerwohnung bewohnte, waren das große Fenster und das kleine Fenster, die also ein Fensterpaar bildeten, meine einzigen Fenster. Ohne erfreuliche Aussicht lebend, hatte ich die Fenster niemals geputzt. An der Basis des großen Fensters konnte man ein Herz erkennen, das, nicht breiter als eine Kinderhand, mit den Fingern dort gemalt worden war, in die harmlose Dreckschicht an der Außenseite, gemalt worden von der Ex-Freundin einer Ex-Freundin, in meiner Abwesenheit, und ohne dass ich sie überhaupt jemals getroffen hätte. Dieses Herz ist etwas schief, die rechte Kammer höher als die linke, von innen aus gesehen, aber es ist ein sehr schönes Herz, dessen Konturen weich und sicher geschwungen sind, außer links unten, zur Spitze hin, wo der Strich frei und kühn sich zieht. Stand ich zwischen Tisch und Bett, welches letztere sich an den Fenstern entlang bis zur Wand streckte, dann konnte ich die Polizisten gegenüber beobachten. Ich beobachtete sie niemals, aber frei und zwecklos am Fenster stehend, sah ich sie oft. Manchernachts hielten sie Autofahrer an, die, in meinen Augen, nicht zu schnell gefahren waren, und auch hatten die Polizisten bei solchen Gelegenheiten keine Radarpistolen dabei. Ich konnte nicht erraten, welche vorgeschriebene Prozedur hier durchgeführt wurde. Nicht selten sah ich die Polizisten vor der Polizeiwache stehen. Manche rauchten und manche rauchten nicht und manche scherzten und manche waren ganz still. Frauen waren auch darunter und der Austausch war freundschaftlich und ungezwungen. Natürlich wurde die Uniform nicht von allen mit aller Strenge getragen. So sah ich einen öfters, der gute vierzig sein mochte, der kurze, dunkle Haare hatte und eine seltsam vertraute Physiognomie, mit gehölten Augen und breiten Wangenknochen, die sich allerdings nach innen wölbten und darum das Gesicht nicht weiter breit erscheinen ließen. Er hatte etwas Unheimliches, und man wollte ihm manches zutrauen. Diesen jedenfalls hatte ich schon in Jeans gesehen mit einem dunkelblauen T-Shirt, das ein eigenes Polizei-T-Shirt war, oder, ein anderes Mal, mit Uniform-Hose, aber Hemd und Jacke zivil. Auch konnte es zu allen Tages- und Nachtzeiten passieren, dass ein Polizeiauto ankam bei der Polizeiwache, gehalten in seinen charakteristischen Farben von rot und dunkelblau auf einem blechsilbrigen Grund. Oder aber die Polizisten stiegen ruhig ein und fuhren ab, und es ist auch schon vorgekommen, dass sie in großer Hast einstiegen. In keinem der Fälle konnte ich, natürlich, den Zweck erahnen. Mit den Jahren war, auf meiner Straßenseite, zwischen mir und der Polizeiwache ein Ginkobaum emporgewachsen, dessen Stamm und Äste immer noch, ihrer Höhe zum Trotz, ihm einen dünnen und schwächlichen Anschein gaben, sodass er den Eindruck jugendlicher Schlacksigkeit erweckte. Aber seine grünen Blätter in der Form ausgefalteter Fächer waren mir sehr teuer, und ich vermisste sie im Winter. Sie waren mir sehr teuer, denn in dieser für Wien ganz untypischen, breiten Straße mit sehr hochgeschossenen Verwaltungsgebäuden (mir gegenüber lag noch das niedrigste), in einer solchen Straße schien ein Mensch einzig einem Baum wirklich vertrauen zu können, und ein Baum ist ohne Blätter kein Baum, sondern bloß ein botanisches Präparat, und so sehr ich im Sommer gestimmt war, hier ein Symbol ewigen Lebens zu sehen, so wenig kam mir winters der Gedanke, ein Symbol des Todes hier zu erkennen, und ich bemerkte den toten Baumplatzhalter kaum. Die breite Straße, also, mit ihren Straßenbahngeleisen, die Hochhäuser, die Polizeiwache und der Ginko, das war die Welt vor meinem Fenster mit dem fingergepinselten Herzen, und in dieser Welt fand die Verhaftung statt.

Ich streckte meinen Kopf nicht aus, um nicht entdeckt zu werden

Es war ein kühler Maienabend, es war schon Nacht, und obwohl es kühl war, hatte ich, nach längst wiederaufgenommener Sommergewohnheit, das kleinere der beiden Fenster geöffnet. Ich las. Niemals hielt ich es anders vor dem Schlafengehen. Ich saß dazu auf dem Sofa mit dem Kopf am Wandende, diejenige Wand, die dem Fensterpaar gegenüber lag, aber das kühle Windesflüstern erreichte mich dennoch immer wieder. Mitternacht war schon vergangen. Ich hörte Rufe von der Straße. Sie störten meine Lektüre und als sie nicht enden wollten, erhob ich mich, um nachzusehen. Dort standen zwei Polizeiwagen, dort stand gut ein halbes Dutzend Polizisten, und in ihrer Mitte ein bloßer Bürger in kurzen Hosen. Der Bürger und die Polizisten waren sich über eine Sache sehr uneins, aber die erregte Rufe, die vom Einzelnen ausgingen, konnte ich nicht verstehen, und es blieb bei halben Wörtern, bei denen ich mehr ergänzte als wahrhaft hörte, und obwohl ich also nichts verstand oder immer nur beinahe, war das Geschehen mitnichten stumm. Abgesondert vom jungen Mann, der er mir scheinen musste, stand ein Mädchen mit weißer Kappe, worunter kurze, dunkle Haare hervorkamen. Es war verzweifelt und musste wohl die Freundin des Mannes sein. Ich setzte mich nun an das Kopfende meines Bettes, wo ich unmittelbar durch das geöffnete kleine Fenster schaute, von wo allein ich einen vollkommenen Blick hatte, denn die Anhaltung trug sich nicht etwa bei der Polizeiwache gerade gegenüber zu, sondern ein Stück die Straße runter. Der Ort war mir rätselhaft. Eine Erkältung befürchtend, warf ich mir die Bettdecke von vorne um die Schultern. Ich streckte meinen Kopf nicht aus, um nicht entdeckt zu werden, und meine Augen lagen lugend auf dem Fensterrahmen hingestreut wie ein grünes Blatt auf dem stillen Teich.

Der Widerspenstige wurde schließlich einige Schritte weggeführt, auf die Straße, vor das zweite Auto, von zwei Polizisten umgeben.

Der Mann und die Freundin waren in großer Unruhe befangen. Der Mann hörte nicht auf, sich zu erregen und sein Ton wurde immer unduldsamer. Die Freundin bat und bat die Polizisten. Die Polizeiautos parkten fast nebeneinander, das eine, mit dem Heck zu mir gewandt, stand korrekt am Straßenrand, das andere jedoch, etwas ferner und mit der Schnauze zu mir, stand gegen Fahrtrichtung auf der Straße, sogar auf dem Straßenbahngleis, aber es ging keine Straßenbahn mehr zu dieser Uhrzeit. Die Diskussion, stattfindend auf dem Gehsteig, ging fort und es war unklar, warum die Polizei überhaupt diskutierte. Der Mann wurde lauter, die Freundin wollte zu ihm, wurde jedoch sachte zurückgehalten. Dann wurde er wiederum lauter, sein Ton einmal anklagend, einmal beleidigend. Die Freundin flehte ihn nun an, still zu sein. Der Mann blieb jedoch dabei, und dann, rasch, unzurückgehalten, bestürmte ihn die Freundin, umarmte ihn, doch die Polizisten trennten sie. Der Widerspenstige wurde schließlich einige Schritte weggeführt, auf die Straße, vor das zweite Auto, von zwei Polizisten umgeben. Plötzlich wurde er mit Schwung herumgedreht, auf die Motorhaube gedrückt, wurden die Handschellen ihm angelegt. In dieser Stellung verharrten sie. Hinter dem Geschehen streckte sich hoch ein Komplex verdunkelter Glastürme. Die Straße war unbelebt, und ein unmittelbar anschließender Parkplatz war leer. Die Straßenbeleuchtung leuchtete. Die Freundin war starr und verzweifelt. Endlich hob man den Verhafteten von der Motorhaube und führte ihn, die paar Schritte, zurück zum Ort der vorhergehenden Diskussion. Doch hatte sich der Mann nur kurz beruhigt.

Die Freundin lehnte sich beinah in einen Polizisten. Für einen Augenblick wollte sie wieder vorfahren, durchbrechen. Dann sank sie fast in die Arme des Polizisten. Der Verhaftete ließ nun ab von seiner Diskussion, die er zumeist ganz allein bestritt, und redete der Freundin gut zu und rief ihr zu, zu ihren Eltern zu gehen. Sie stimmte bei, deutete sogar die Richtung. Wirr und traumbefangen ließ sie sich wegschieben. Beständig zurückblickend ging sie quer über die Straße. Gespannt wandten sich die Köpfe aller Polizisten nach ihr um und folgten ihrem Weg. Nach wenigen Sekunden lief sie wieder zurück. In einem weinenden und flehenden Tone richtete sich die Freundin nun erneut an die Polizisten. Diese ließen sich nicht erbitten. Sie fuhr zurück, fuhr vor, wieder zurück und stand jetzt einen Schritt abseits. Sie flehte weiterhin, sie wusste kein Mittel. Nach vorne gebeugt, warf sie auch die Arme nach vor, und ihre leeren, offenen Handflächen starrten den Polizisten entgegen. Ich teilte ihre Verzweiflung und zerdrückte eine Träne, und ich dachte, dass ich zu weich sei, dass ich jedem beliebigen Spektakel ausgeliefert sei, aber ich dachte auch, dass ich hart sein könnte, wenn ich nur die Notwendigkeit verstünde.

Durch das Laub des Ginko hindurch sah ich ihn durch die automatische Schiebetür mit grünem Rahmen gehen.

Zuletzt nahm ein Polizist das Mädchen beiseite, er trug keine Kappe und hatte helles Haar, und war nicht alt und war erheblich größer als die Verzweifelte. Sie standen auf dem leeren Parkplatz, der eine dunkelgraue Masse war in der schalen Beleuchtung. Der Polizist hatte die Geduld verloren. Er bewegte seine Arme heftig, riss den rechten Arm gewaltsam von sich und deutete mit langgestrecktem Arm und Finger und schrie mehrfach: „Geh ham!“ Die Freundin lief davon, in dieselbe Richtung wie zuvor. Es war ein Krächzen in ihrem Atem. Sie verschwand.

Bald darauf kam ein großer Polizeibus, der vor allem sehr hoch war. Der Verhaftete musste mitfahren. Während des Einladens näherte sich ein Taxi, auf dessen Fahrbahn der große Polizeibus stand. Es umfuhr diesen vorsichtig. Rasch machte sich nun der Bus auf den Weg, und ebenso die Polizisten, auf beide Autos verteilt. Bloß einer ging in ruhigen und großen Schritten, es war ein hochgewachsener Mann, zur Polizeiwache, die meiner Wohnung gegenüber lag. Durch das Laub des Ginko hindurch sah ich ihn durch die automatische Schiebetür mit grünem Rahmen gehen. Ich hatte keinen der Polizisten wiedererkennen können, und nicht einmal deutlich gesehen, ob Frauen unter ihnen waren. Ich streckte meinen Kopf beim geöffneten kleinen Fenster hinaus, weil ich mich fragte, ob die Freundin vielleicht die weiteren Ereignisse von der Ecke meines Häuserblockes aus beobachtet hatte. Ich sah sie nicht. Niemals erfuhr ich das Delikt in Frage.

Erstmals erschienen in: LOG – Zeitschrift für Internationale Literatur 141/2014