„Also eine Sache hat mich den halben Tag auf Trab gehalten, aber es ist eigentlich zu blöd…“
Als Klecks von seiner Frau keine Antwort erhielt, sprach er weiter: „Es ist nämlich ein Faszikel verschwunden.“
„Ja?“, sagte die Frau. Sie holte eine große Plastikschüssel aus dem Küchenschrank und stellte sie auf den kleinen Tisch, an dem auch Klecks nun saß.
„Das hat auf jeden Fall mit dem Herrn Leopold zu tun: den Karton, aus dem das Faszikel fehlt, hat er schon weißgott wie lang bearbeitet. Und weißgott wozu. Aus der Forschung ist der nicht. Jetzt ist das Faszikel verschwunden, wie als wär das einfach die höhere Stufe der Unordnung, die der permanent gestiftet hat. Aber dass er das Faszikel entwendet haben könnte – das kann ich mir nicht vorstellen. Das ist ein alter Mann mit einer großen, dicken, ja wirklich enormen Brille, wenn er nicht so eine enorme, dicke Nase hätte, könnte er sie unmöglich tragen, eine Allegorie der Demenz würde nicht viel anders ausschauen. Das hilft mir aber alles nicht weiter, in Betreff des verschwundenen Faszikels.“
Das Faszikel war halt einmalig
Während er sprach, schälte seine Frau die Karotten: sie führte den Schäler über die lange Karotte, lange Streifen blätterten davon ab, die das saftig glänzende Innere freigaben. Sie warf die Streifen weg und nahm danach das Messer und schnitt die Karotten in vieleckige, dünne Scheiben, alles im ruhigsten und regelmäßigsten Takte. Das gedämpfte Klopfen des Messers auf dem Schneidbrett floss neben dem Reden ihres Mannes dahin, ohne dass sie etwas sagte oder überhaupt sagen wollte, befand sie sich doch in der schwebendsten Gebanntheit ihrer Handgriffe, einer auf den andern folgend.
„Also jetzt ist das Faszikel weg“, setzte Klecks fort, „und ich kann es nicht finden und es war peinlich genug, einen Kollegen um Hilfe zu bitten, immerhin ist das meine Abteilung, meine Verantwortung: ich habe das Faszikel verloren. Das verstehst du vielleicht nicht, warum mich das aufregt. Das Faszikel war halt einmalig, historische Dokumente. Das kann man nicht nachbestellen. Ein einziges Mal ist es aus der Feder eines Sekretärs geflossen. Ein einziges Mal. Ja. Kann schon sein, dass der Herr Leopold der erste ist, seit dem 19. Jahrhundert, der sich das überhaupt angeschaut hat, soweit er noch sehen kann, aber trotzdem…“
Der Archivar Klecks war noch ein junger Mann: er trug einen fein glänzenden, braunblonden Vollbart und eine elegante Brille mit Metallfassung. Nach allgemeiner Ansicht war er der witzigste Angestellte im Archiv, und man sagte, er bringe dorthin „frischen Wind“.
Seine Frau hielt das Schneidbrett hoch und schob mit dem Messer die Karottenscheiben in die Plastikschüssel. Langsam nur träuffelte sie sie hinein. Dann sagte sie, zu ihrem Mann gewandt: „Avocado magst du, oder?“
„Ja, schon in Ordnung.“
Erstmals erschienen in: LOG – Zeitschrift für Internationale Literatur 140/2013