Sie hatten es eilig. Oder auch nicht: Sie hatten die Uhr genau im Auge, wie alle Welt am Silvesterabend. Zehn Minuten bis Mitternacht, alles würde sich ausgehen, aber Eile hatte sie befallen. Ein Dutzend Leute stieg einen Hügel hinauf, einen mäßig steilen Weinberg gleich außerhalb der Stadt.
Darunter waren die meisten Mädchen, und unter ihnen war Hannah. Sie fror etwas in dieser meteorologisch banalen Nacht eines kalten und schneelosen Winters. Die schnellen Schritte wärmten sie und danach auch der mitgebrachte Glühwein. Sie versuchte so große Schritte zu machen, wie sie konnte, einfach weil es die interessanteste Art war, einen ansteigenden Weg zu bewältigen. Als sie merkte, dass sie so fast an die Spitze der Gruppe geraten war, wurde sie langsamer. In einem kurzen Blick zurück suchte sie nach Michael, den sie aber nicht sah. Sie blieb kurz stehen, vorgeblich auf die kleine Stadt hinunterschauend, auf die jungen, gepflegten Wohnviertel, auf den sich geradlinig durchziehenden Bahndamm, auf die kleinen, dicht nebeneinander gestreuten Häuser jenseits davon. Sie erkannte Michael am Ende der Gruppe, gerade noch den Anschluss wahrend. Hannah verweilte nicht länger als eine Sekunde, bevor sie weiterging. Das Ziel war wohl beinah erreicht, dennoch eilte sie zu Christina, die zusammen mit ihrem Bruder die Spitze innehatte. Nicht ganz auf der Hügelkuppe, die schon von anderen eingenommen wurde, versammelte man sich. Christinas Bruder und sein bester Freund brauchten Platz, um ihre eigenen Raketen abzuschießen. So stellten sich die beiden Spaß vor.
Langsam brannte die Lunte ab. Der große Augenblick war nahe.
Als Cousin und Anhängsel jenes besten Freundes stand Moritz recht verloren herum, während die beiden mit den Raketen hantierten. Der Siebzehnjährige war ein gutes Stück jünger als die anderen und kannte niemanden unter ihnen, diese aber kannten sich zumeist untereinander aus der Schulzeit. Er sprach dennoch mit manchen, wechselte zwischen Nervosität und Verdrossenheit. Auch die Getränke einer Silvesternacht änderte nichts daran. Er haschte nach dem Glühwein öfter als alle anderen auf der kurzen Wanderung. Als Christina oder eine andere ihm das Getränk in die Hand drückte, dankte er ihnen überschwänglich. Sein rundes Gesicht fanden sie süß, aber kindlich; das war ihm bewusst, schmerzlich. Trotzdem konnte er nicht davon lassen, zu hoffen, war es auch unsinnig.
„Wieviele Minuten noch?“, fragte er Christina bei ihr ankommend.
Sie antwortete jedoch nicht, sondern blickte an ihm vorbei, hinab auf die gesamte Gruppe, offenbar etwas oder jemanden suchend. Sie war klein, irgendwie nett, aber zugleich ein bisschen hässlich. Dennoch interessierte sich Moritz für sie, gerade für sie, aber nicht nur für sie.
„Ist dir kalt?“, sagte Christina schließlich abwesend.
„Ich habe nur gefragt, wie lange noch.“
„Drei Minuten.“
Alle stellten sich nun auf, verteilten sich auf Gruppen von drei oder vier Personen. Christina stellte sich zu Hannah und Michael, auch Moritz tat eilig den Schritt zu ihnen hinüber.
„Das ist ein sehr guter Platz, den du ausgesucht hast“, sagte Michael zu Christina. Er sprach langsam und scheinbar umständlich. „Wir werden das Feuerwerk der Stadt sehen, aber wir sehen eigentlich in alle Richtungen.“ Dann wandte er sich zu Moritz. „Im Unterschied zum vorigen Jahr und zum Jahr davor. Ich bin im großen Park gewesen, um das Feuerwerk der Stadt zu sehen. Das freilich das schönste ist, das man hierzulande zu Silvester sehen kann.“
Moritz nickte. Die beiden Mädchen schwiegen, Michael ansehend, ob er noch etwas sage würde. Doch er hatte seine Augen bereits in die Ferne gerichtet.
Unter lautem, allseitigen Jubel begann das neue Jahr und begannen die Feuerwerke. Rechts in der Weite hob das offizielle Feuerwerk der Stadt dazu an, den leicht bewölkten Himmel und seine schwachen Mond zu beherrschen. Dabei nahmen die spritzenden Ströme der Farben, von Rot, von Grün, von Gold die gesamte Breite des Horizontes ein. Manche wunderbare Explosion war darunter, fand auch in der Nähe statt und tauchte dann alle Gesichter, zumal Christinas und Hannahs, als Moritz sie betrachtete, in ein lichtes Weiß. Die Blässe stand ihnen gut an. Nun schoss, unter dem Applaus der Gruppe, auch sein Cousin eine Rakete ab: Die Explosion war hübsch, aber bescheiden, sich in fünf dicke, grüne Funken teilend. Die nächste mehr Eindruck: Ein silbriges Rieseln und Schimmern zerstreute sich über dem Hügel. Indes häufte das städtische Feuerwerk ein Wunderding auf das andere. Christina und ihre Freunde interessierten sich dennoch mehr für die eigenen Böller, deren bester jetzt gezündet werden sollte. Alle schauten auf die Lunte. Christinas Bruder ging davon. Er versprach sich viel von dieser Rakete und hatte auch schon die andern auf ein echtes Spektakel eingestimmt. Langsam brannte die Lunte ab. Der große Augenblick war nahe. Alle schauten mit großen Augen auf die Lunte, es konnte sich nur noch um Bruchteile von Sekunden handeln. Alle schauten auf die Lunte. Dann zerplatzte die Rakete am Boden, am Ort ihrer Aufstellung. Michael lachte; er wusste, dass er den Höhepunkt des Abends gerade erlebt hatte. Niemand war verletzt.
„Zum Glück ist nichts passiert“, sagte auch Christina ihrem Bruder zum Trost.
Im Laufe dieser ersten Stunden des neuen Jahres war die Festgesellschaft immer weiter zerfallen, bis nur noch jene Vierergruppe übriggeblieben war. Ungefähr um drei fanden sich Hannah, Christina, Michael und Moritz in einem Lokal wieder, das Christina als geringstes Übel ausgewählt hatte. Es war recht finster, die Musik laut. Sie gingen durch, auf einen freien Tisch zu. Eine Frau, die neben einer eher abgerissenen, männlichen Gestalt saß, die hübsch war, aber vielleicht etwas wohlgenährt, wies Christina als Dame vom Gewerbe aus. In der folgenden Stunde wurden die Besucher weniger. Auch bei der Vierergruppe nahm die Langeweile Überhand. Sie spielten Tischfußball in wechselnden Paaren. Nicht nur war in diesem Teil des Lokals noch mehr los. Moritz war überglücklich, konnte er sich doch nun endlich in strahlendem Licht darstellen; er war der beste und seine Seite gewann immer. Das Glück schwand vollkommen, als zuerst Hannh und bald darauf Christina das Spiel verließen. Unvermittelt ging dann auch Michael. Ein Mitspieler nach dem andern wurde von einem überschwänglichen, sein Herz ausschüttenden Betrunkenen ersetzt. Verdrossen, aber unverdrossen setzte Moritz das Spiel zunächst fort.
Moritz wagte nicht, seine Frage zu wiederholen.
„Michael hat keine Freundin, oder?“, fragte Christina, die mit Hannah an der Bar stand.
„Nein. Seit einem Jahr nicht. Warum fragst du?“
„Na ja, der Arme.“
„Ich habe ihn nicht darauf angesprochen“, sagte Hannah.
„So schüchtern kenne ich dich gar nicht“, sagte Christina.
Hannah schüttelte den Kopf: „Was soll das mit Schüchternheit zu tun haben?“
„Nichts. Entschuldige.“ Christinas Blick gíng suchend durch den Raum.
Moritz fand Michael allein auf der Terrasse.
„Was machst du?“, fragte er ihn. Es war kalt. Das Mondlicht umriss die einzige Wolke mit großer Deutlichkeit.
„Der eine Angesoffene hat mir in seiner Herzensgüte eine Zigarrette geschenkt. Jetzt überlege ich, sie zu rauchen. Jetzt stehe ich hier. Dabei habe ich gar kein Feuer. Und ich rauche auch nicht.“
„Ich habe ein Feuerzeug“, antwortete Moritz eifrig und griff schon in seine Manteltasche. „Obwohl ich auch nicht rauche.“
Michael hob ein wenig seine Hand an, in Hüfthöhe, und Moritz ließ das Feuerzeug stecken.
„Weißt du, ob Hannah oder Christina mit jemandem zusammen sind?“, fragte Moritz zutraulich.
Michael zog skeptisch die Augenbrauen nach oben: „Zusammen sein. Die Frauen glauben, das ist das Leben. Das ist nicht das Leben.“
Moritz wagte nicht, seine Frage zu wiederholen. Die einzelne Wolke hatte sich vom zunehmenden Mond verzogen. Der Silvesterabend floss über in den Neujahrstag.
Erstmals erschienen in: Erostepost 51 (Dezember 2015)