Korrektur der Sterne

Als Alfred Windigburg mit 17 Stichen in Hals und Oberkörper tot aufgefunden wurde, hatte es niemand erwartet. Seine junge Frau, seine uralte Mutter, seine vier Kinder aus erster Ehe, das jüngste, Tochter Simone, nicht mehr als 10 Jahre alt, sie hatten nichts davon kommen sehen. Doch dasselbe gilt für das ganze, rasch in Schockstarre versunkene Land. Als mehrere Minister und die Frau des Bundespräsidenten am Begräbnis teilnahmen, schwebten geheim und doch für jeden offensichtlich stumme Schreckensvisionen über dem Geschehen, färbte ein imaginärer Schleier die gesamte Feierlichkeit rot, blutrot. Als hochrangige Damen und Herren aus Politik und Wirtschaft vor dem Sarg des Generaldirektors der Lotto-Austria ihre Kränze andächtig niederlegten, war der Mord an Alfred Windigburg längst zum nationalen Ereignis geworden. Der Grund dafür sind die Bilder, die Bilder der Überwachungskamera vor der Haustür des Opfers. Wir wissen es alle: sie zeigen Täter Lukas F. in seinem primitiven, blinden, machtvollen, zwanghaften, satanisch besessenen Blutrausch. Er kommt aus der Dunkelheit, das Opfer hat kaum Zeit, überrascht zu sein. So mühelos, scheint es, springt das Messer wieder und immer wieder in den grausam hingemetzelten Körper. Er wird zu Boden gedrückt. Schließlich quillt das Blut hervor, die Flecken dehnen sich aus über das vornehme, hellgraue Sakko des Sproßes der alten Fürstenfamilie Windigburg-Anfétunnéan. Der geschändete Körper regt sich noch, zuckt, dann nichts mehr. Er bleibt liegen. Wir sehen die Bilder, Jahre, Jahrhunderte, unermessliche Zeiten scheinen vergangen zu sein, doch die Anzeige ist unerbittlich: vierunddreißig Sekunden. Doch beim ersten Mal spielte das keine Rolle. Jeder erinnert sich, wo er war, als er es sah. Ich war in der Redaktion, am Morgen nach der Tat, ein Kollege zeigte mir das Video. „Stell den Kaffee auf den Tisch”, sagte er vorher.

Heute endlich, im Gespräch mit ihm und anderen Beteiligten, bringen wir Licht in das blutige Dunkel, das ein ganzes Land heimsucht.

Nur Stunden nach der Tat, noch am selben Abend, wurde Lukas F. gefasst. Das Überwachungsband zeigte nicht bloß seine gnadenlose Vernichtungshandlung, zeigte nicht nur den leblosen Körper des einstigen Lebemannes, zeigte nicht nur die Steinfliesen, die zur Türe führen, und die aus dem Dunkel des Gartens hervortretenden grünbelaubten Äste und den feingetrimmten Rasen, nein, es zeigte auch das vollkommen unmaskierte Gesicht des Mörders. Kurz nach Mitternacht wurde er in einem schäbigen Lokal gefasst. Die Polizei gestattete ihm nicht, den Kaffee auszutrinken, der ihm gerade erst serviert worden war. Die Anekdote, von den Stammgästen des Beisls in verschiedenen Varianten den Medien zugetragen, wurde rasch berühmt. Über Nacht wurde „Ich muss mein‘ Kaffee trinken, bevor die Polizei kommt” zum geflügelten Wort für das Austrinken unter Zeitdruck. Doch das ist bloß einer der seltsamen Umständen, die den brutalen Mord in ein faszinierendes Rätsel verwandelt haben, und gerade als solches ist er mehr und mehr im allgemeinen Bewusstsein verankert. Es wurde ebenfalls rasch bekannt, dass sein erster Weg nach der Tat ihn – wohin führte? Ins Kino. „Ich habe Glück gehabt, noch rechtzeitig hinzukommen. Ich habe zwar Melancholia schon vier Mal gesehen gehabt, aber gerade den Anfang habe ich um keinen Preis versäumen wollen.” Ob er überhaupt noch an den Mord dachte, frage ich ihn. „Eigentlich nicht, ich habe nichts anderes gewollt, als noch pünktlich hinzukommen. Wie ich mich im Vorbeigehen in einem Schaufenster gespiegelt habe, da habe ich gemerkt, dass meine Jacke voller Blut war. Ich habe sie also ausgezogen und so zusammengewickelt, dass man vom Blut nichts mehr gesehen hat. Aber dann war ich eh gleich beim Kino.” Mit uns, im exklusiven Spiegel der Zeit-Interview spricht Lukas F. zum ersten Mal über seine Tat und ihre Hintergründe, über sein Leben und was ihn bewegt. Heute endlich, im Gespräch mit ihm und anderen Beteiligten, bringen wir Licht in das blutige Dunkel, das ein ganzes Land heimsucht.

Nichts, nicht das geringste, egal wie lange man den Blick schweifen lässt, kann einen in Gumpoldskirchen auf den Gedanken bringen, hier sei ein solcher Mörder, Täter einer solchen Tat, herangezogen worden. Die Natur zeigt hier ihr mildestes Lächeln, zieht sanft die Hügel in die Höhe, wo der Ort sich hinstreckt wie in einen Liegestuhl gebettet, mit einem Polster aus Mischwald gerade über sich. Es sind Weinberge, auf denen grün die Reben in langen Reihen stehen und sich im Herbst rot und gelb und braun verfärben. Hierhin führen die Bewohner ihre pelzigen, struppigen Freunde, vorbei an den Joggern und radfahrenden Familien. „Sie hatten einen deutschen Schäferhund”, meint seine Cousine. „Er hat ihn wahnsinnig geliebt. Schnauzenwilli der Name. Er hat ihn geliebt, einmal, als ich zu Besuch war, ich war selber noch ein Kind, da haben wir geglaubt, der Willi ist verschwunden. Lukas war verzweifelt. Ohne Aufsicht, ohne irgendwen ist er im ganzen Ort herumgelaufen und in den Weinbergen, um ihn zu suchen. Den Hund hat dann keiner mehr gesucht, sondern nur mehr ihn. Man hat ihn schon gefunden, so dramatisch war das nicht, und in der Zwischenzeit auch den Hund, quasi unabsichtlich. Die Nachbarskinder haben ihn in ihrer Garage eingesperrt, Kinder kommen halt auf Ideen. Aber wie Lukas neun Jahre alt war, ist der Schnauzenwilli gestorben.” Die Cousine verstummt. Hinter den zarten Zügen der Jus-Studentin, hinter glasig werdenden blauen Augen arbeitet, werkt, wirkt, wirbelt, murmelt irgendetwas, etwas das aufsteigt und sich wieder zurückzieht, Erinnerungen und Befürchtungen gemischt. Später in unseren Gesprächen werde ich den Eindruck gewinnen, dass sie nicht an die Schuld ihres Cousins, Sohn der Schwester ihrer Mutter, glauben will, glauben kann, glauben darf – obwohl sie die Berichte kennt, die Ermittlungen und das Video, das wir alle kennen. Sie bleibt stumm. Ich will in ihre Augen schauen, wie um die Wahrheit hinauszuschaufeln, doch sie sagt nichts, flieht meinen Blick. Will sie weinen? Sie kann es nicht. Sie schweigt weiterhin, also frage ich: „Und wie hat er den Tod seines geliebten Hundes aufgenommen?” Sie schaut auf und spricht endlich: „Sehr schlecht. Er hat seiner Mutter die Schuld gegeben. Dann hat sie ihn gefragt warum, und er ist schreiend davon gerannt. Aber er hat nicht lang gebraucht, um eine Theorie zu entwickeln. Er hat die Krankheit des Hundes auf das Trauma vom Entlaufensein damals, also vom Einsperren in der Garage, zurückgeführt. Und weil die Mutter damals zu Hause war und auf den Willi hätte aufpassen müssen, war sie dann schuld. Wie ich das damals gehört habe, habe ich es sehr raffiniert gefunden, aber ich war auch noch klein.” Und wie haben die Eltern reagiert? Der kleine Lukas wurde ohne weitere Erklärungen auf sein Zimmer geschickt. „Natürlich hat er es in sich hineingefressen.” Heute sitzt er mir in einem anderen Gefängnis gegenüber. Sein noch jugendliches Gesicht zieht sich zusammen, setzt alle Kraft daran, Tränen zu vermeiden – „Nein!”, schreit er dann, plötzlich und brutal. Nie wird eine meine Annäherungen an das Thema auch nur den geringsten Erfolg haben.

Die Spekulation selbst hat die Tatsache geschaffen, und ich war dabei.

„Das habe ich in der Alles Heute gesehen. Noch am selben Tag wie später die Lottoziehung war. Da habe ich mir noch gesagt: schon wieder ein gutes Omen! Bald kann ich anfangen Omen zu verschenken, hab ich mir gesagt.” In einer Gratiszeitung in der U-Bahn sah Lukas F., wie sein späteres Opfer Alfred Windigburg lebte, ja residierte. Eine ganze Doppelseite wurde von einem seiner Society-Feste in Beschlag genommen, komplett mit Silbermedaillensportlern und Rechtspopulisten mit neuer Lebensgefährtin. „Ein bisschen im Internet stöbern, und schon ist nicht mehr viel zu kombinieren”, beschreibt der Täter schlicht, wie er die Adresse seines Opfers herausfand. Niemand lebte auch weniger ‚unter dem Radar’ als eben Alfred Windigburg. Berühmt wurde die Parade seiner 83 Meter langen Yacht über die Wiener Ringstraße, als diese für die Schlussetappe der Österreich-Rundfahrt abgesperrt war, doch schon lange davor hatte er zur Prominenz von Sängern, Schauspielern und Sportlern aufgeschlossen. Affären ebenso wie politische Ambitionen waren Gegenstand ewiger Gerüchte, immer wieder befeuert durch eine ganz eigene Kunst des Mit-jemand-gesehen-Werdens. Tatsachen wurden daraus nie. Ein Fakt dagegen ist sein schillerndstes Fest, das bis heute nicht aufgehört hat, zu faszinieren: die Helikopter-Party, die an drei Tiroler Nobelskiorten zugleich stattfand – mit einem ständigen Austausch der Gäste über sieben Hubschrauber. „Nicht jeder verträgt in der Luft einen Sekt”, lachte damals Toni Polster. Und ein bei diesem Anlass entstandenes Foto Windigburgs an der Seite von Sergej Timoschtschuk, dem angeblichen „Paten von Kiew”, wurde sogar im Nationalrat debattiert. Es ist also kein Wunder, dass seit der Ermorderung anhaltend und hartnäckig über einen Zusammenhang der Tat mit dem organisierten Verbrechen spekuliert wird. „Haha, nein.” Mit „solchen Leuten” hat Lukas F. niemals zu tun gehabt. „Die schmuggeln Menschen, die schmuggeln Drogen, machen Kinderpornos, das sind die wirklichen Mörder. Ohne den…” Etwas hellt sich auf in seinem Gesicht, nichts verwandelt sich, aber eine neue Kraft durchzieht seine Miene, die sehr matt geworden war von der Aussicht auf einen langen, sehr langen Gefängnisaufenthalt. Er hat eine Idee. „Von so einem Kriminellen hab ich die Welt befreit. Österreich ist jetzt sauberer.” Vor meinen Augen, ich schwöre es, ist diese Erklärung und Rechtfertigung entstanden, die in den letzten Tagen schon ihren Weg in die Medien und wiederum die Politik gefunden hat. Doch bis dahin: keine Spur davon. Wer das große Rätsel über das Motiv also für gelöst hält, wer glaubt den „einsamen Rächer” oder „rechtsradikalen Terroristen” – samt der politischen Irrtümer, die ihn hervorgebracht hätten – entdeckt und begriffen zu haben, der täuscht sich, so einfach ist das. Die Spekulation selbst hat die Tatsache geschaffen, und ich war dabei. Bis dahin jedoch, also vor dem Mord, während des Mordes und noch lange nach dem Mord, existierte dieses „Motiv” nicht einmal als Dampf und Schatten, so solide und real es sich jetzt auch darstellen mag, so sehr es wahrscheinlich die Berichterstattung über den Prozess bestimmen wird. Laut dem gestrigen Tweet eines Nationalratsabgeordneten einer bestimmten Partei, der Lukas F. in Wirklichkeit niemals besucht hat, habe dieser „die Öffnung nach Osten” als die Wurzel des Übels bezeichnet und habe bedauert, „als Einzelner” so wenig dagegen tun zu können. Doch wir haben Glück. Nicht als ihm die Idee kam, ein solches Motiv gehabt zu haben, begann diese neue Erzählung, ihn so zu beherrschen, wie sie es mittlerweile leider tut, sondern frühestens 48 Stunden danach, als ihm der Gedanke aus Zeitungen, Fernsehen und Internet entgegenlachte. Ein Zeitfenster blieb, um einen Blick in die wahre Seele des Lukas F. zu werfen.

„Nein, das war überhaupt kein Problem. Oder halt nicht, wenn man auf zack ist.” Von der nächsten Ecke späht er nach Windigburgs Auto. Es hält vor dem Tor, und Lukas F. beginnt als harmloser Passant in seine Richtung zu spazieren. Das prächtige schmiedeeiserne Gitter öffnet sich in den breiten Garten und Hinterhof, das ahnungslose Opfer fährt sanft ein, und noch bevor sich die Pforte wieder schließt, ist Lukas F. hineingeglitten. „Einfach hinter einem dicken Baum” habe er sich dann versteckt. „Es war Wahnsinn. Das Herz hat mir geklopft, ich hab geglaubt, ich muss selbst sterben.” Das scharfe Küchenmesser steckt in der Innentasche der Jacke, in einen Fetzen gewickelt. Lautlos zieht er es hervor. Ein paar Schritte vor der Haustür schaltet sich ein automatisches Licht ein, innerhalb dessen Alfred Windigburg nach seinem Schlüssel kramt. Wer weiß, ohne diese Verspätung hätte er womöglich, schon im Flur stehend, die Tür vor dem Angreifer zuschlagen können, wer weiß, ohne diese Ablenkung wäre er vielleicht nicht überrascht worden und hätte sich wehren können. Drei Sekunden, die ein Leben kosten. „Zuerst bin ich langsam hinter dem Baum – dort im Garten war es stockdunkel – hervorgeschlichen. Wirklich geschlichen. Das Licht geht an. Er bleibt stehen, sucht den Schlüssel in seiner Hosentasche, kriegt ihn nicht gleich raus. Das war der große Moment.” Lukas F. macht eine Pause, in der sich seine Brust hebt, sein Rücken und sein Hals sich strecken. „Nicht jeder spürt den großen Moment und zieht es dann durch.” Er weiß gar nicht genau, wann er zu laufen begonnen hat. Mit vollem Schwung stößt er auf sein Opfer, stößt das Messer hinein. Seine Schilderung deckt sich von außen mit den grauenvollen, verstörenden Kamerabildern. Und von innen? „Eigentlich war es auch von innen wie ein Film. Ich habe alles unglaublich genau gesehen. So genau kann ein normaler Mensch gar nicht sehen.” Wiederum verstummt er. Diesmal jedoch nicht, um etwas zu verkünden. Sichtlich sinkt er in sich selbst zurück, Eindrücke von unerhörter Intensität quellen in ihm hervor. „Ich glaube das ist es, was andere Erleuchtung oder Gott nennen. Wahrscheinlich waren alle Heiligen nur verhinderte Mörder.” Er lächelt nicht bei dieser Bemerkung. Er tut auch nicht ominös. Nichts davon, er spricht wie einer, der sich mit einer Sache auskennt, als wäre es Kochen oder Autofahren. War es eine Extase? „Ich weiß nicht, ‚Extase’. Alles war einfach so nah und so klar. Und einfach deutlich. Und überhaupt einfach. Verglichen damit ist die Welt wirklich nur ein Sumpf. Keiner kennt sich aus. Man kann sich ja gar nicht auskennen. Jeder, der glaubt, er kennt sich aus, kennt sich in Wirklichkeit überhaupt nicht aus.” Dann hebt er den Schlüssel auf und verlässt das Haus, wegen des Kinos in Eile, über die Gartenpforte, weil sich dieser Ausgang näher an der Straßenbahn befindet. „Zuerst hab ich gar keinen Plan gehabt, was ich nachher mache, oder für die ‚Flucht’, wie Sie das nennen. Aber dann kommt mir die Idee mit dem Schlüssel, und nachher hat sich alles von selbst ergeben.” Und so war alles bestens, und „das Schicksal hat sich selbst korrigiert”.

Als „geizig, bösartig, frauenfeindlich”, wird dieser Großvater von der Cousine beschrieben.

Vor der Haft lebte Lukas F. in einer winzigen Wohnung, eng und schlecht, doch kostenlos, in einem Zinshaus im Besitz seines Großvaters. Als „geizig, bösartig, frauenfeindlich”, wird dieser Großvater von der Cousine beschrieben. Angeblich habe er seinem Enkel die Wohnung nur aus der Befürchtung überlassen, der Hausbesorger wolle sie für seinen erwachsenen Sohn in Beschlag nehmen. Zu vermieten war das „Kellerloch” – so nennt es ein Arbeitskollege des Täters, der jedoch anonym bleiben möchte – realistischerweise nicht. Der Kollege hatte Lukas F. kennengelernt beim Transportieren von Särgen für die Bestattung Wien. Einer von vielen Gelegenheitsjobs: „Davon allein hätte er sicher nicht leben können. Aber irgendwie ist er durchgekommen, anscheinend.” Einmal besucht der Kollege auch die Wohnung: „Ein komplettes Chaos, wenn er irgendetwas gerade nicht mehr gebraucht hat, hat er es dort liegenlassen, wo er gerade war.” Nach dem großen Ereignis war die Wohnung jedoch für niemanden mehr zu besichtigen, die Polizei ausgenommen, und ebenso sprach der Großvater mit niemandem. Im Umgang sei Lukas F. zwar freundlich gewesen, doch nie so recht locker. „Er war nicht ‚distanziert’, aber trotzdem irgendwie schwer zu erreichen. Ein Brüter.” Natürlich habe sich auch der Kollege seine dramatische Bluttat im vorhinein niemals vorstellen können, habe niemals an so etwas gedacht, doch, rückblickend, still nickend ohne mir in die Augen zu sehen, meint er: „Was weiß man, was einer ausbrütet.”

Und wer weiß, in diesen Momenten des stummen Starrens, der Verträumtheit, fast der Weggetretenheit, von denen berichtet wird, vielleicht dachte er da – an einen Film. Als ich das Kino aufsuche, in welchem Lukas F. bald nach der Tat zum wiederholten Mal Lars von Triers Melancholia sah, stoße ich auf ein überraschendes Zeugnis. Es ist eine bescheidene Lokalität, die beiden kleinen Säle im Keller und im Foyer kaum Platz genug für eine Bank und den Verkauf von Karten und Popcorn. Der Kartenabreißer Frank, ein Student aus Deutschland, erinnert sich an ein Gespräch („eigentlich ein Monolog von ihm”) mit Lukas F., das vor etwa einem Jahr stattgefunden hat. Das jüngste Ereignis hat ihm alles frisch ins Gedächtnis zurückgerufen. Allerdings war dieses merkwürdige Erlebnis ohnehin einprägsam genug. Es beginnt damit, dass im Kinosaal, den er nach der Vorstellung etwas säubern muss, ein einziger sitzt, der den gesamten Abspann abwartet, und sich erst erhebt, als die Lichter angehen und Frank bereits beginnt, den Müll der Zuschauer aufzuheben. Dieser Einsame verlässt nun den Saal, Frank kümmert sich um alles, bis hin zum Löschen aller Lichter und dem Versperren der Türen nach dieser letzten Vorstellung des Tages. Er tritt in die frische Frühlingsnacht. Er bleibt stehen, um sich eine Zigarrette anzuzünden. Plötzlich springt ein Mann um die Ecke, als hätte er ihm aufgelauert. Es ist Lukas F. „Er hat gleich drauflos geplappert, auch ohne sich vorzustellen, sogar ohne Hallo.” Er arbeite an einem Filmprojekt, wie Frank zu hören bekomme. Ein monumentales Werk in dem die tragische Geschichte einer Familie, dem Urknall, der Entstehung des Kosmos und der Evolution gegenüber gestellt werden soll. Er schwärmt von den Musikstücken, die er verwenden will, von den „unerhört langen” Kamerafahrten und der „singulär intensiven” Arbeit mit den Schauspielern. Frank vergisst unter diesem bizarren Ausbruch sogar seine Zigarrette. Er nickt vorsichtig, weil er nicht weiß, wie er mit dem unheimlichen Mann umgehen oder was er ihm entgegnen sollte. Doch er muss überhaupt nichts entgegnen: er wird nichts gefragt und keine Redepause deutet ihm an, seine Meinung beizusteuern. Wie einbringen, dass er gehen möchte, zur U-Bahn muss? Dann verstummt Lukas F. plötzlich und starrt irgendwohin, man weiß nicht wohin. Frank wagt nicht diese eigenartige Sammlung und Konzentration zu unterbrechen. Dann flucht Lukas F., wie wild und in ständigen Zuckungen. „Eine Sache stimmt halt nicht”, sagt er, nachdem er sich endlich beruhigt hat. Und er geht. Er geht, ist weg, sagt nichts. Das Gespenst kam, das Gespenst ging. „Zuerst ging mir das alles nicht aus dem Kopf, aber ich wurde nicht schlau daraus. So hatte ich dann nicht mehr darüber nachgedacht.” Als ich Lukas F. in seiner Zelle darauf anspreche, sagt er mir: „Natürlich! Man muss Künstler sein. Künstler haben das höhere Leben. Eigentlich sind sie die einzigen, die leben.” Er bestätigt Franks Bericht und ist dabei mächtig stolz. „Ich werde diesen Film noch drehen, verlassen Sie sich darauf! Solang ich atme, ist das meine Bestimmung.” Bei unsern Recherchen stellt sich heraus, dass er von der Filmakademie nicht aufgenommen wurde. „Ja”, sagt er, und irgendwie kann ich seine Miene nicht lesen, als er mir antwortet: „Die haben es nicht begriffen.”

Seine vernichterische Schlussfolgerung daraus, ist ihm offenbar so logisch und sonnenklar, dass er sie gar nicht ausspricht

Die Zelle ist ein kahler und unfreundlicher Ort, doch Lukas F. scheint sich wohlzufühlen. Die Wärme empfängt er von dem Heiligenschein, den er sich einbildet. Wenn er sich beruhigt, erschleicht er sich einen Ausdruck des Friedens, der Zuversicht, beinah der Zärtlichkeit, und dieser Ausdruck legt sich wie ein Schleier über den Abgrund des Hasses und des Zornes, des Bösen und der Rachsucht und des besinnungslosen Blutdurstes. Als wir schweigen, und ich seine Züge betrachte, verfallen sie schließlich in eine phlegmatische Starre: doch was kann nicht alles – und wie plötzlich! – hier hervorbrechen? Ich blicke auf die Hand, deren mörderische Tat bereits jetzt eine Generation geprägt hat. Das ist die Gewalt, die wir nicht sehen und darum für nicht vorhanden halten, bis sie aus der Dunkelheit hervorstürzt wie auf dem auf Youtube bisher 3,7 Millionen Mal gesehenen Video. Die Welt hat den Atem angehalten, und wir haben ihn noch nicht wiedergefunden. Und das ganze – warum? Diese Frage ist ein tiefes Loch, das alle Spekulationen nicht gefüllt, sondern nur noch weiter gemacht haben, und nicht nur weiter, sondern auch finsterer, bodenloser, bedrohlicher, übler. Ich stelle also die große Frage, als, wie ich hoffe, der günstige Augenblick gekommen ist, und versuche, mir dabei nichts anmerken zu lassen. Und tatsächlich: irgendein „großer Moment”, irgendein „Triumph” kommt Lukas F. mitnichten in den Sinn. Schlicht wie ein Schaf erzählt er: „Ich habe eine entscheidende Sorge gehabt: wie ich meinen Film finanziere. Bei den Größenordnungen, um die es hier geht, kann man nicht einfach improvisieren. Zum Glück habe ich dann die Idee mit dem Lotto gehabt. Die Sache war eigentlich erledigt, und ich war schon dabei, einen Zeitplan für die Dreharbeiten aufzustellen; alles andere, die Besetzung vor allem, habe ich ja schon längst im Kopf gehabt. Und dann hat irgendwer anderer gewonnen.” Seine vernichterische Schlussfolgerung daraus, ist ihm offenbar so logisch und sonnenklar, dass er sie gar nicht ausspricht, weil wohl jeder so denken müsse. Dann fügt er zufrieden hinzu: „Aber mit dem ganzen Betrug ist es jetzt vorbei.”