Benjamin, der Unsterbliche

Es war eine Gelegenheit unter vielen, und es ist nicht so recht zu erraten, was sie von den anderen, folgenlos gebliebenen, unterschied. Es gab keine „Phase“ in seinem Leben, die ihren Anfang nahm oder ihr Ende fand, gab keine besondere Kraft oder Ermüdung an diesem Abend, keine besondere Hoffnung oder Verzagtheit. Der Gedanke hatte ihn häufig angeblickt, immer wieder, und doch nur wie ein Wägelchen im Karussell, als einer unter vielen, der in dem Moment, als er ihm am nächsten ist, sich schon fortzubewegen beginnt, und die unablässige Drehung bringt ihn wieder zurück, führt ihn wieder weg. Ein Gedanke, der uns mitnimmt, ist wie vom Karussell sich wegreißend: er beschreibt keinen Kreis mehr, sondern eine Kurve, die immer gerader wird, je mehr sich der Schwung verliert, der ihn auf seine ursprüngliche Bahn geschickt hatte, bis er zuletzt liegenbleibt. So kommt er selten an sein Ende. Und da man nun selbst sich mühen muss, ihn dorthin zu tragen, da man sich, außerdem, nicht sicher sein kann, ob er in seinem Innern aus Luft oder Eisen besteht, geschieht es oft, dass man nichts anderes sehen will, als das weiter sich drehende und drehende, buntbeleuchtete Karussell.

Was damals die Besonderheit ausmachte, was diesen Gedanken aus seiner festen Installation befreite, das lässt sich nicht erklären. Wir blicken auf die Ursachen, die wir uns ansonsten denken würden, wie auf die unterschiedslose Landschaft des Meeres, wo die Wahrheit wie ein havariertes U-Boot unbemerkt bis zum Grunde sinkt.

Benjamin wartete lange auf der Rolltreppe, bis er an die Oberfläche kam. Es war inzwischen, nach einer langen U-Bahnfahrt, Nacht geworden. Er hatte ein geschlossenes Buch in der Hand und mied alle Blicke, während er die Straße hinunterging, und schaute nur kurz auf, als er sie überquerte, links und rechts nur ein Sekundenbruchteil, doch mehr als genug, um die fernen Automobile präzise zu erfassen, ihre Geschwindigkeit genau zu erraten, sie als bedeutungslos aus seiner Aufmerksamkeit wieder zu streichen, um so, wie ein Windstoß rasch und ohne innezuhalten, hinüber zu gelangen.

Er packte das Buch in seinen kleinen abgetragenen Rucksack aus hellbraunem Leder, bevor er das Lokal betrat. Es war ein Pub, das er sich nicht als irisch, englisch oder schottisch zu identifizieren bemüht hatte. Es hatte nicht nur seine eigene Biersorte, nein, als er einmal ein kleines Bier bestellt hatte, erreichte ihn schließlich ein gnomhaft verschmitztes Gläschen, das sich auf Nachfrage als Halfpint herausstellte. Es hatte auch ein Pubquiz, an dem Benjamin bisher drei Mal teilgenommen hatte, in sehr ungleichen Abständen und in halb zufälligen Gruppen, von welcher einer einmal bloß ein halber Punkt auf den Hauptpreis, eine Flasche Wodka, gefehlt hatte. Eine Frage aus der Frühzeit von Asterix und Obelix hatte sie den Sieg gekostet. Und doch war es ein angenehmes, ziemlich dunkles Lokal mit schwarz lackierten Holzsesseln und, am Ende des Saales, langen, abgewetzten Ledersofas in einem Grünton, der ihn, zusammen mit den niedrigen hellen Holztischen, an seine Vorstellung von karibischen Nachtclubs erinnerte. Benjamin war allerdings nicht sonderlich weitgereist.

Da nun ein solches Sofa frei war, ergriff er gerne die Gelegenheit, sich darauf auszubreiten. Es war noch nicht sehr spät, an einem Montag. Benjamin beobachtete das Geschehen wie jemand, der am Strand liegt, also ohne außerhalb zu stehen, ohne Vogelperspektive, ohne analytische Überlegenheit und in der unausgesprochenen Annahme, dass auch alle anderen zum zweckfreien Schauen hierher gekommen waren. Ungefähr die Hälfte der Tische war besetzt, auch ein langer mit einer großen Gruppe, und so stellte er befriedigt fest, dass der Raum nicht verödet war und doch ausreichend Luft ließ. Im einzelnen kam er jedoch zu keinen Schlussfolgerungen, sagte nicht: das ist x, das ist wie y, sondern ließ bloß das Auge mitgezogen werden von den Körpern und Gesten, von dem Auf und Ab der Hände und Münder, sodass sich die stumme, gerade noch verstandene Welt zu Strichen und Flächen gestaltete, als stünde er vor einer der abstrakten Kompositionen Kandinskys. Benjamin träumte. Dem Kellner sagte er, er warte noch auf jemanden, denn so war es.

Diese kurzen Worte hatten ihn nicht aus seinem Zustand gerissen. Sie waren nur als eine weitere Instrumentengruppe in die Gesamtmelodie eingetreten. Dann ebnete sich auch diese, nach dem schmalen Moment, zu einem angenehmen Rauschen ein. Er lag wie in der kühlen Au eines breiten, seichten Flusses in der hellgrauen Stimmung, die vom bedeckten Himmel herabdämmert. Als käme nun in der Ferne ein Spaziergänger, dessen dunkle Kleidung sich nur langsam aus den Braun- und Grüntönen des Waldweges löst, auf ihn zu, wurde die Gestalt Thomasʼ zunehmend größer und schließlich als solche sichtbar.

Die beiden Freunde waren 31. Sie sahen einander nicht häufig, aber doch mit einer gewissen, festen Regelmäßigkeit, die beide nach etwa zwei Monaten empfinden ließ, dass es wieder Zeit sei, sich zu melden, ein Gefühl, auf das sich Benjamin so gut verlassen konnte wie in den Fällen der zweiwöchigen und ebenso der zweijährigen Freunde.

Thomas war großgewachsen und trug eine Brille, deren beinah runde Gläser an John Lennon erinnerten, so wie sein blondes Haar ansatzweise als Pilzkopf in seine Stirn fallen wollte. Benjamin fragte sich, ob der Mann, den er als charismatisch und gutaussehend kennengelernt hatte, nicht ein wenig Gewicht zugelegt hatte. Unter dem dünnen Pullover war ein leichtes Bäuchlein zu erkennen. Er war sich allerdings nicht sicher und zweifelte ein bisschen an seinem Gedächtnis oder wollte andere Ursachen wie die Körperhaltung oder eine große Mahlzeit gelten lassen. Der Fall lag nicht eindeutig. Die wirklichen Schocks, in dieser Hinsicht, gaben ihm die ein- oder zweijährigen Bekannten, deren plötzliche Verwandlungen zum schlechteren ihn drastisch an sein eigenes Älterwerden erinnerten.

Davon blieb Benjamin jetzt verschont. Auf die Frage, wie es ihm gehe, antwortete er „unverändert“, lesen, schreiben, denken, ausnahmsweise müsse er auch keine Wohnung suchen. Sie lachten. Thomas wohnte in der Nähe, zusammen mit seiner langjährigen Freundin. Sie würden bald in Themen geraten, die, wie der Ort und die Gesten und die Getränke, sich regelmäßig und selbstverständlich ergeben würden, oft die Universität oder die Politik. Doch zuerst schien Thomas etwas loswerden zu wollen.

„Scheiße, gerade wollte ich erzählen… Ich wollte erzählen, wie ich gesehen habe, dass sich zwei Behinderte auf ihren selbstfahrenden Rollstühlen ein Wettrennen am Gehsteig geliefert haben, aber…“

„Aber?“

„Ich wollte sagen: am Donnerstag. Ich wollte nicht sagen: vorige Woche.“

„Und was ist das Problem?“

„An sich ist es kein Problem. An sich ist es natürlich egal, ob es am Donnerstag war oder am Dienstag, oder ob es vorige Woche war oder voriges Jahr oder einfach irgendwann. Das ist alles ganz egal. Es wäre wirklich nicht um den Donnerstag gegangen, die Geschichte ist mir einfach inklusive Donnerstag eingefallen…“

„Aber?“ Benjamin beugte sich vor, interessiert, auf Beute lauernd.

„Aber gleich, praktisch in derselben Sekunde, habe ich daran gezweifelt, dass es Donnerstag war.“

„Obwohl es egal ist?“

„Die Geschichte bleibt dieselbe. Es war auch sehr lustig anzusehen. Was mich stört, ehrlich gesagt…“ Thomas seufzte, sah auf den Tisch hinunter. „Was mich stört, ist, dass ich es nicht mehr weiß, weil ein Tag wie der andere ist. Ich komme auch jetzt nicht darauf, weil es nichts gibt, was den Donnerstag, zum Beispiel den Donnerstag, vom Mittwoch oder vom Freitag unterscheiden würde, jedenfalls nichts, was mir speziell im Gedächtnis geblieben wäre. Das ist es: ein Tag ist wie der andere, und… dem bin ich ausgeliefert.“

„Ausgeliefert?“ Benjamin wollte nicht eingreifen. Oft war es sein Reflex, die eigene Meinung auszulöschen zu versuchen.

„Ausgeliefert. Weil alle Unterschiede verschwinden.“ Thomas wirkte müde, und sein Bier stand nun seit einer Weile unberührt. „Dieselbe Arbeit, im selben Büro.“ Er war bei einer Firma beschäftigt, die die verschiedensten Arten von Seminaren veranstaltete. „Zu denselben Zeiten: nur dass man im Winter resigniert feststellt, dass man erst bei Dunkelheit hinaus kommt. Und wenn man morgens hinfährt, dann sind es im Bus immer dieselben Gesichter, das meine ich so, also nicht nur dieselben Menschen, sondern sie schauen auch immer gleich. Ich habe mir schon gedacht, ich werde einmal im Bus einen Witz erzählen, damit ich, zur Abwechslung, die Menschen lächeln sehe, und wäre es nur aus Höflichkeit. Das hat bisher natürlich überhaupt nicht funktioniert, weil ich es immer vergesse, weil ich nicht in der Stimmung dafür bin und mein Kopf und meine Seele sich noch im Tiefschlaf befinden. Ich müsste einen eigenen Wecker dafür stellen.“

Benjamin wusste nichts zu antworten. Es war ihm klar, dass Thomas litt, und dennoch beneidete er ihn. Sein Freund konnte sagen: ich arbeite bei der Firma W… und dort kümmere ich mich darum, die diversen Seminarhotels zu buchen, mit den Leitern und den Gästen in Verbindung zu stehen und noch so manches. Jeder, der dergleichen hörte, würde befriedigt nicken und wissen, mit wem er zu tun hat. Seine Familie würde befriedigt nicken. Frauen, die er treffen würde (aber nicht traf, wegen seiner Langzeitfreundin), würden befriedigt nicken. Nie würde er einen Gesprächspartner in der Luft hängen lassen, nie würde er Auskunft geben müssen über Dinge, die man, ihrer Natur nach, gar nicht kurz und klar zusammenfassen konnte, die nur ausführlich und kompliziert überhaupt einen Wert hatten, wodurch man diesen nie einem Menschen begreiflich machen konnte. Denn niemand hatte Interesse an nutzlosen oder unpersönlichen Gegenständen. Niemand außer Benjamin. Dabei war das Unpersönliche das eigentliche Verhängnis. Es überraschte ihn nicht selten, wieviele Menschen ihn mochten und mit echter Teilnahme etwas über ihn und sein Befinden erfahren wollten, was er selbst für völlig uninteressant hielt. Denen muss einigermaßen fad sein. Er war geschickt darin, solche Fragen umzudrehen und seinen Unterredner über sich selbst sprechen zu lassen. Das brachte auch jeder mit einem normalen Beruf leicht fertig. So fiel ihm jetzt nicht ein, wie er Thomas glauben machen sollte, dass er das Gefühl kenne. Und wenn, dann musste man ein Gefühl stehen lassen, wie man alle Dinge stehen lassen sollte, als was sie wirklich waren, sodass es Benjamin auch nicht in den Sinn kam, all seine Gedanken als Tröstung, als Ausgleich der Nachteile seinem Freund nahezubringen.

Aber sein eigener Monolog hatte Thomas bereits sichtbar erleichtert. Bald würde das Pubquiz anfangen, sodass er nach bekannten Gesichtern Ausschau hielt, um sich vielleicht mit anderen zu einem Rateteam zusammenzutun. Es eröffneten sich zwar Möglichkeiten, aber das Zweigespann ihres Gesprächs hatte sich bereits zu gut eingespielt, um neu Hinzugekommende anders denn als Störung zu empfinden. Bald ging der Dialog seine wohlbekannten Bahnen, nicht ohne sein kalkulierbares Neues, eben seine erfreuliche Fortsetzung der Bahn. Das Leben war auf Risse oder Revolutionen heute Abend nicht aus.

Es ging noch darum, dem Duo einen Namen für die Quizteilnahme zu geben. Man schwankte zwischen „Walter Benjamin“ und „Benjamin Blümchen“, dann entschied man sich für Letzteres, um die Sache erledigt zu haben. Die verschiedenen Fragen und Aufgaben, beispielsweise ein rückwärtsgespieltes Lied zu identifzieren, führten, als Unterbrechungen, einen eigentümlichen Takt in das Gespräch ein. Doch sorgsam nahmen sie jeden frei hängen gelassenen Faden wieder auf, sodass die zahlreichen sich immer ergebenden Löcher im so entstehenden Teppich ihnen nicht auffielen und der Glaube fest blieb, man träte nie auf den kalten Boden.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, setzte sich das Treffen in Benjamins Kopf weiter fort, nur dass diesmal er allein die Rede führte. Das war für ihn nicht selten der beste Grund, menschliche Verbindungen zu pflegen: in der Wärme des Inneren konnte es geschehen, dass die Gedanken, ungedacht und geschmolzen, bloß umherschwappten und den Anderen als Form benötigten und das Gespräch als frische Luft, um endlich zu einer bestimmten und schließlich greifbaren und verwendbaren Gestalt auszukühlen.

Die physische Luft tat ebenfalls ihren Teil. Heute hatte sich, durch mehrere Stunden, der feucht wärmende, wie dampfende Sonnenschein des ersten Frühlingstages über die Stadt gebreitet. Nun schien die klärende Winterkälte zurückgekehrt zu sein. Zugleich war die Temperatur erträglich, und so wirkte alles zusammen, Benjamin nicht wieder die lange Rolltreppe in die Tiefe, Wärme und das Licht derselben Station nehmen zu lassen, sondern ihn auf einen gewissen Fußweg zu schicken, vorerst zur nächsten Station, von wo er ja noch immer bequem genug seine Heimfahrt antreten konnte.

Er bewegte sich durch eine von hohen Zinshäusern gesäumte Allee mit großwachsenen, aber kahlen Baumgerippen. Gelegentlich passierte er erleuchtete Tiefparterrefenster, hier lagen Wohnungen, deren Ärmlichkeit ebenso deutlich sichtbar war, wie man die Großfamilien zu hören glaubte, obwohl man nur mit den Augen einen winzigen Ausschnitt ihres untenwegten, bunten Betriebs wahrnahm. Benjamin bemerkte wenig davon, nicht mehr, als dass es da war, nicht mehr drängte es sich auf, als die gleichen Tiefparterrefenster bei all den Werkstätten und Geschäften, wo es jetzt längst dunkel war und vom Inneren nichts zu erkennen.

Ausgeliefert. Weil alle Unterschiede verschwinden. Ohne erkennbaren Grund waren Benjamin die Worte seines Freundes wieder erschienen. Er sah deutlich, dass er nicht so lebte. Was war am Mittwoch? Was war am Donnerstag? Natürlich musste auch er überlegen. Natürlich war es an sich nutzlos, Anekdoten wie das Rollstuhlrennen mit Datum zu verzeichnen. Und doch plagte er sich nie mit dem, worüber Thomas und andere sich immer wieder beschwerten, und hatte bisher nie Anlass gehabt, darüber nachzudenken. Ha, das Märchen, dass ich nur unpersönliche Gegenstände erwägen würde. Nein – oder doch: sie werden eben unpersönlich, egal, was der Anlass war. Sage ich etwa seltener „ich“ als alle Welt? Aus Märchen flickt man sich selbst zusammen, manche hat man aufgeschnappt, manche selbst erfunden. Man ist nicht ganz ohne Ursache draufgekommen, aber sie sind längst nicht mehr aktuell, jetzt, und man erzählt sie dennoch weiter, an andere, glaubt dabei selbst daran. Ich bin so und so. Ohne kommt man nicht aus, eigentlich. Aha! Schon wieder ins Unpersönliche gezogen. Und Benjamin nahm sich vor, zuhause seine rein persönlichen Erinnerungen niederzuschreiben. Ohne schreiben, würde es nicht gehen, man kann nämlich nicht – – schon wieder! Also: sofort!

Der bewusste Vorsatz, sich zu erinnern, brachte ihm nun aber nicht mehr, als dass er aus seiner Gedankenkette erwachte. Immer noch ging er durch die kalten Straßen und musste sich plötzlich fragen, wo er eigentlich war und ob er beim nächsten Eck abbiegen oder geradeaus gehen würde. Dort angekommen entwarf sich der weitere Weg aber ganz von selbst. Meine Bahn, mein Wahn, dachte er zusammenhanglos, eher zum Spaß. Die Gedanken hatten sich wohl erschöpft, es war spät, und er konnte genausogut den Schritt beschleunigen und sehen, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen. Es reimte sich etwas fort in seinem Kopf. Als es zu „Zahn“ geraten war, stellte sich die Erinnerung an etwas ein, das er mit ungefähr fünfzehn Jahren notiert hatte und, wie er meinte, ungefähr so lauten musste: „Ich will kein Zahnrad sein.“

Das denkt sicher jeder. Das Gefühl des Eigenen war schon wieder, nach weniger als ein Sekunde, dabei, sich im unsichtbaren Schlund des Allgemeinen zu verlieren. Und tatsächlich verschwand es. Doch als wäre es ein Echo unter Wasser, blieb Benjamin die Intuition eines Unterschiedes: nein, zu leicht, das ist zu leicht, du machst es dir zu leicht, hier ist etwas, hier ist Eines nicht wie das Andere. Denn selbst wenn jeder das mit fünfzehn denkt, später kommt es ganz anders.

Du weißt außerdem, dass nicht jeder so gedacht hat. Du hast immer diejenigen bewundert, beneidet, die schon immer wussten, was sie „werden wollten“. Wie der Filseder, der immer Arzt werden wollte, wie sein Vater, natürlich. Der Medizinbücher gelesen hat. Hat er behauptet. Jetzt konnte Benjamin darüber lachen. Was auch immer der wirklich gelesen hat. Oder davon verstanden. Jetzt schien es ihm völlig verrückt, dass einer mit so etwas seine Kindheit vergeudet. Aber was hatte er selbst gemacht? In einer Sache verschwand der starke Eindruck, den der frühe Lebensernst vom Filseder auf ihn gemacht hatte, nicht so ganz. Es war in der kleinen Provinzstraßenbahn, die eine Reihe kleiner Ortschaften verband, indem sie ein Rinnsal an Kindern schuf, die alle in dieselbe Schule gingen, und dann für die Halbwüchsigen, die sich nicht mehr von den Eltern zu ihren Treffen fahren ließen, der Mittelpunkt des Strudels sein sollte. Draußen der stockdunkle Wintermorgen. Filseder, mit seinen Sommensprossen und kurzen roten Haaren, und Benjamin standen bei den breiten Mitteltüren, hielten sich bei der mit grauem Kunststoff ummantelten Stange an. Der kleine Benjamin wanderte mit den Augen auf und ab durch den Waggon, ständig erneut auf der Suche nach einem Sitzplatz: alle waren besetzt. Jede Kurve und jede Bremsung zwangen sich seinem schwachen Körper auf. Bei der nächsten Station wurden endlich zwei Sitze frei, sie lagen einander gegenüber, beiderseits eines kleinen Tischchens. Benjamin sah kurz zu Filseder und wollte die Plätze schon in Besitz nehmen, als er merkte, dass dieser nicht folgte. Er war zwar nur sein zufälliger, heutiger Fahrtgenosse, aber es schien ihm doch natürlich, sich jetzt nicht ohne ihn hinzusetzen. Zwei andere Kinder nutzten sein Zögern, und die Gelegenheit war dahin. Benjamin sah Filseder verärgert an, doch dieser tat so, als hätte er nichts bemerkt und fände nichts normaler, als in der „Bahn“ zu stehen. Und er tat weiter so, als fiele ihm Benjamins abwechselnd fragendes, trauriges oder anklagendes Gesicht gar nicht auf.

„Aber wir hätten uns hinsetzen können!“, rief Benjamin endlich.

„Ich sitze nachher sowieso sechs Stunden“, sagte Filseder.

Benjamin verstummte, damals und bei der Erinnerung daran. Nicht nur, weil Kinder ansonsten immer mit hysterischen Energien nach Sitzplätzen in öffentlichen Verkehrsmitteln geifern. Es war vielleicht das erste Mal, dass er von ausdrücklichem Körperbewusstsein gehört hatte. Es gab nichts zu erwidern. Der kleine Mediziner hatte völlig recht.

Sicher war er mittlerweile Arzt geworden. Obwohl: hatte nicht ein anderer Schulfreund immer verkündet, er wolle Architekt werden, nur um dann zehn verschiedene Sachen zu studieren? Und er hatte auch von dessen Schicksal keine Ahnung. Interessierte es ihn überhaupt? Benjamin wischte es weg: Anekdoten, Geschwätz. Gleich war ihm jedoch bewusst, dass es schon wieder dieselbe Sünde gegen die einzelne Lebenstatsache war, das Allgemeinheitssyndrom, das ihn daseinsunfähig machte. Und überhaupt zu einer toten Seele. Tell them they will find a grave man (Shakespeare). Das sagt also ein Sterbender. Humor und Heiterkeit sind mehr als Aufputz, du darfst nicht ungerecht sein.

Von dieser Frage her drohte aber nur die nächste Abschweifung. Konzentration. Was war wohl aus dem merkwürdigsten seiner früheren Bekannten geworden? Es musste ein Jahr vergangen sein oder sonst eine kaum schätzbare Zeit, dass er das letzte Mal an ihn gedacht hatte. Benjamin spürte, es würde heißen, einen ganzen Berg anzubohren, sich mit diesen Erinnerungen zu beschäftigen.

Plötzlich war er auf der langen Rolltreppe, die bei dieser Station womöglich noch tiefer hinabführte als bei derjenigen, bei welcher er vor ein paar Stunden angekommen war. Es kostete noch eine Minute des Ringens, bevor er duldete, dass sich diese Erinnerungen entfalteten. Dann kamen sie nicht. Benjamin lachte über sich selbst, während er auf die U-Bahn wartete. Ein Teil von ihm war glücklich, verschont zu bleiben, doch mehr noch ärgerte er sich. Er ärgerte sich, den einmal gefassten Entschluss durchkreuzt zu finden. Und er ärgerte sich über die Stimme in ihm selbst, die dieser plötzlichen Wendung erleichtert nachgeben wollte. Die lieber die anderen Menschen am Bahnsteig und, gleich darauf, im U-Bahnzug beobachten wollte, interessiert und doch ein wenig ängstlich. Nein! Er saß schon drin und überlegte, wie er seine Beharrlichkeit gegen den sanften Anstieg des nachgiebigen Vergessens erhalten konnte. Fast dachte er nur noch daran, fast dachte er nur noch: es ist der Schlaf, der eigentlich schon beginnt, zu dieser Stunde, den Willen wiegt er zuerst in seinen Armen, dann erst den Geist, Stück für Stück. Es ist nur logisch, dass… doch hier traf Benjamin der rettende Gedanke: er holte sein Notizbuch hervor und schrieb den Namen nieder. Andreas. Andreas Alfart, so hieß er wirklich.

Er war klein und trug oft schwarze Hemden und immer eine Brille. Und diese Hemden knöpfte er bis oben hin zu, sodass sein Gesicht körperlos zu schweben schien, ein Gesicht das rund war, der Ansatz der üppig wachsenden schwarzen Locken schon zurückweichend, was die Stirn noch mehr als ohnehin hoch und breit aufragend erscheinen ließ, sodass, insgesamt, jenes Gesicht das Eigenleben einer Maske bekam, wohl einer solchen, die der Medizinmann bei den Feiern eines fremdartigen Kultes trug.

Er war Benjamin unheimlich gewesen. Und doch hatte sich das erst im Laufe der Jahre ergeben. Sein Vater war als wirkliches Bauernkind aufgewachsen, war in seiner Jugend Holzfäller und Waldmensch gewesen. Davon hatte Andreas, den er, selbst zwei Jahre jünger, als Zehnjährigen kennengelernt hatte, ursprünglich einiges mitbekommen. Er schnitzte Pfeil und Bogen und schoss damit. Mit Walkie-Talkies spielten sie in freier Natur eine Variante von Verstecken, bei der freilich Benjamin stets auf Anordnung von Andreas neue Plätze aufsuchen musste. Er erinnerte sich genauso an unbeschwertes Legobauen und lustige Verkleidungen, manchmal stellten sie mit einer Videokamera filmend Fernsehsendungen nach. Alles Spaß, solange Andreasʼ Mutter nicht Brennesselsuppe zubereitete oder andere arg gemüselastige Gerichte.

Benjamin verzeichnete jetzt alle Aktivitäten in seinem Notizbuch. Dabei begann er, sich im Flötenklang dieser bachhellen Erinnerungen etwas zu verlieren. Weil er an die Wälder dachte. Das leuchtende Grün des Blätterdaches, die staubige Glätte der Baumstämme, die gelegentliche verwunderte Feststellung, hier ganz allein zu sein – Dinge, die ihm als Kind sicher kaum aufgefallen waren, aber doch immer da gewesen sein mussten in diesen Spielen, deren freien Ernst die Erwachsenen so sehr neiden. Alles geschehend unter der unsichtbar bewahrenden Hand des Himmels.

Es blieb nicht dabei. Die Spiele im Wald verschwanden, und die Merkwürdigkeiten nahmen zu. Sicher, eine Kindheit konnte nicht ewig dauern und was sie, leichtfertig, für das wirkliche Leben hielten, begann sich auszudehnen. Angefangen hatte es dennoch schon davor. Etwa bestand Andreas darauf, dass ein Legohaus vollkommen einfarbig sein musste. Das war für Benjamin eigentlich unnachvollziehbar, trotzdem fügte er sich eilig in das, was, zweifellos, eine höhere Erkenntnis sein musste. Dieses Prinzip, das eisern festgehalten wurde, war allerdings nicht leicht zu verwirklichen. Schließlich hatte bisher noch niemand daran gedacht und dementsprechend buntgesprenkelt waren die vorfindlichen Baumaterialien. Sie konnten zwar zusammenlegen, aber da die Turmprojekte zunehmend monumental gerieten, war man zu Kompromissen gezwungen. Nur abschnittsweise wurde dann einfarbig gebaut.

Nach einer Bronchitis – er war oft krank im Bett – erfand Andreas die Figur der verrückten Kaiserin Bronchia und schrieb Geschichten über sie. Sie waren angeblich sehr lustig. Benjamin konnte nur beistimmen. Andreas behauptete außerdem, dass sie „in der Nachfolge“ von H. P. Lovecraft stünden. So formuliert, schien es Benjamin nicht nur erwachsen, sondern geradezu übermächtig wie sich sein älterer Freund gebärdete. Auch seine Vorstellung von dem genannten Vorbild, von dem er bis dahin noch nie gehört hatte, verlor sich in denselben unmäßigen Proportionen. Heute zweifelte Benjamin, ob diese Geschichten sonderlich amüsant waren, ob er wirklich, wie er lange Jahre geglaubt hatte, einfach zu jung und einfältig gewesen war, um sie zu verstehen. Heute schienen sie ihm sadistisch und abartig. Wie Andreas ja auch stolz zu erzählen pflegte, wie er früher, vor ihrer Bekanntschaft, mit dem Feuerzeug Käfer abzufackeln pflegte. Bronchia fiel, zum Beispiel, häufig ein, ihren Ehemann, ihre Töchter und sogar ihren Schoßhund, eine Bulldogge, ausgiebig zu quälen, nicht selten durch übertriebene Nahrungszufuhr. Benjamin lachte auf. Vielleicht war es nur absurd, vielleicht war er im Rückblick zu hart.

Die Stimme des Fahrers ertönte kratzig aus den Lautsprechern, es sei die Endstation und es sollten bitte alle aussteigen. Benjamin seufzte. Er hatte durch diese Träumereien und Bohrungen seine Haltstelle verpasst. Das schlimmste war aber nicht eingetreten: die U-Bahn fuhr noch. Wiewohl, wie er sich vergewisserte, es beinahe Mitternacht war. Er war zwar ausgestiegen, doch offenbar war es derselbe Zug, der nun in die andere Richtung gehen würde. Benjamin setzte sich wieder auf denselben Platz und nur Sekunden später blinkten die roten Lämpchen, die es nun seit drei Jahren gab über den Türen, um anzuzeigen, dass diese sich jetzt schließen würden. Er war erneut unterwegs und nicht unglücklich; auf einen weiteren Spaziergang in der kalten Luft hatte er keine Lust mehr.

Mittlerweile musste er mehr darauf achten, sich nicht bloß in der Erinnerung aufzuhalten, wenn er nicht noch einmal seine Station versäumen wollte. Da war es besser, aufzustehen. In diesem Zustand kämpferischer Konzentration, für welche Benjamin eigentlich bereits zu müde war, vergingen die letzten zwei Minuten in der U-Bahn in einer wackligen Leere des Bewusstseins, die war wie eine weiße Leinwand über die verschiedenfarbige Lichter flackern.

Die Gemeindebauten, die er nun an der Oberfläche passierte, führten ihn gleich in die vorherige Erinnerungskette zurück. Andreas war nämlich damals mit seinen Eltern in eine vergleichbare Siedlung gezogen, die allerdings aus Eigentumswohnungen bestand. Heute lebte auch Benjamins Mutter dort, und so sah er den Ort und seine Bewohner gelegentlich wieder. Hatten sie immer schon, schon damals, diese verhärmten und bösartigen Mienen gehabt? Wenn er daran dachte, dass sein eigener Lebensstandard noch unter dem eines Studenten lag, konnte er hier durchgehend Menschen erblicken, die in Pracht und Überfluss lebten, in einer Kleinstadt, die für Übervierzigjährige das Paradies darstellte. Glücklich war offenbar keiner. Wie sie starrten, wenn man eine Schachtel trug oder eine Tasche oder einen Koffer. Ein Bedürfnis nach Kontrolle strahlte aus diesen Gesichtern, die sich niemals zu einem Lächeln verflüssigten. Das ließ Benjamin daran denken, wie vergnügt er manchmal war, als er erkannte, dass die anderen etwas zu verlieren hatten und er nicht. Dann waren all seine Sorgen um sein Auskommen ins Gegenteil verkehrt, wurde das gestrandete Schiff von der Flut wieder aufs Meer getragen, dabei wie magnetisch angezogen von der aufgehenden Sonne. Dagegen waren diese Eigentümer erstarrt wie der Beton aus dem Jahr 1960, und würden ihr Leben lang auf das schmale Format der Wohnungen, für die sie bezahlt hatten, beschränkt bleiben.

Äußerlich unterschied sich die Siedlung kaum von einem großzügig angelegten Gemeindebau in einem Wiener Außenbezirk. Es waren drei graue, mit Natursteinplatten verkleidete Gebäude zu je sieben Stockwerken, angelegt als drei Seiten eines Quadrats mit Garagen an der vierten Seite und einer Wiese mit Bäumen und Spielplatz dazwischen. Die in ihrer Jugend neu erbaute, gleich über einer Böschung gelegene Umfahrungsstraße grenzte das Areal nach Süden ab, und auch in die anderen Richtungen war der Wald jetzt fern. Es lagen teils Wohngebiete mit Einfamilienhäusern darum herum, teils Autohändler, ein Sportplatz (den freilich der Verein exklusiv nutzte) und das städtische Wasserwerk.

Die gerade ihrer Kindheit Entwachsenen nahmen von dieser Enge nichts wahr. Für Benjamin waren mit fünfzehn die nahen Dinge fern und die fernen Dinge nah. Er dachte über Gott nach. Bald hatte er so viel kombiniert, dass es, also, Gott geben musste, weil ansonsten alle moralischen Werte grundlos wären und man plötzlich jeden erschlagen könnte, der einen schief anschaut. Zugleich musste es ein bloßer Schöpfer und Uhrmacher gewesen sein, der nicht in sein vollkommenes Uhrwerk mehr einzugreifen brauchte, waren doch die Naturgesetze die Naturgesetze, waren doch Wunder und Gebete sämtlich Aberglaube. Dem Menschen und seinem freien Willen fielen also große Macht und Verantwortung zu. Eine schwere Aufgabe, aber Benjamin war zuversichtlich, dass durch vernünftige Ableitungen alles bewältigbar war und dass kein vernünftiger Mensch, niemand, der logische Schlussfolgerungen respektierte, überhaupt anders denken könnte.

An einem Winternachmittag, als es schon früh dämmerte, war er wieder einmal bei Andreas zu Besuch. Sie hatten damit herumgespielt, ein Theaterstück zu improvisieren, das sie am Kassettenrecorder aufnahmen. Andreas hatte die Idee gehabt. Es sollte wie Das weite Land sein, das er vor kurzem von der Schule aus gelesen hatte und auf dessen „Tiefe“ er nun bestand. Benjamin sollte einen zynischen Mediziner spielen, der keine Religion hatte und immer das Schlechteste von den Menschen annahm.

„Wer anderen Menschen hilft, ist gar nicht altruistisch, sondern egoistisch, weil er ja nur geliebt werden möchte. Sehen Sie: ich weiß es, denn deswegen bin ich Arzt geworden“, war eine seiner Repliken.

„Nein!“, rief Andreas. „Du redest das ja nur runter, du glaubst gar nicht daran.“

„Ja… eh nicht.“

„Du musst es in dem Moment glauben, wenn es überzeugend sein soll.“

Das war nicht seine einzige Maxime für Schauspielerei und Theater, und Benjamin war jedes Mal sehr beeindruckt. Er bekam die gerade aufgenommene Dialogzeile, wenn sie Andreas nicht gefallen hatte, noch einmal vom Band zu hören, es wurde ihm erläutert, was er nicht gut gemacht hatte, und er bemühte sich, es beim nächsten Versuch besser zu machen.

Sie wurden unterbrochen vom Abendessen, das Andreasʼ Mutter bereitet hatte. Teigtaschen mit Spinatfüllung. Benjamin fand sie scheußlich und verweigerte sie. Vor vielen Jahren hatten seine Eltern es bei ihm mit Spinat versucht, aber er begriff kaum, was „gesund“ bedeuten sollte, und lehnte nach dem ersten Bissen jeden weiteren beharrlich ab. So auch heute, ohne das geringste Nachdenken. Tatsächlich fürchtete er die Küche hier, die sich ja schwer auf Gemüse verließ.

„Aber das schmeckt doch gut!“, sagte Andreas.

Plötzlich war Benjamins Widerstandskraft geschwächt. Miteinemmal war die Frage nicht mehr, ob es ihm schmeckte, sondern ob er sich auf Essen recht verstand. Mitten im Eigensten und Persönlichen war er zu einem Dilettanten geworden. Da auch die Mutter mit ähnlichem Nachdruck ihr Angebot wiederholte, ließ er sich doch einen Teller mit ein paar Spinatteigtaschen, die jeweils etwa die Größe eines Reclamheftes hatten, geben. Die andern waren mit ihm zufrieden. Sie warteten, zum Glück, nicht auf seine Reaktion. Denn nach einem kleinen, vorsichtigen Probebissen wusste er, dass er unmöglich den Rest runterbekommen konnte. Doch den Teller jetzt wieder zurückzuschieben, erschien ihm als eine grauenvolle Blamage und nichts fürchtete er im Leben mehr. Zuerst behalf er sich damit, nur den Teig vom Rand zu essen.

„Und es kommt ein Priester vor“, erzählte Andreas. „Wie bei Dostojewskij.“

Er berichtete seiner Mutter ernst und begeistert von seinem Theaterstück. Es hatte auch einen Titel: der einsame See. Er selbst würde den Priester spielen.

„Haha, der kleine Pfarrer“, sagte sie ironisch.

„Ein Priester, das heißt mehr als ein Pfarrer“, erwiderte Andreas gefasst. „Das ist das sacerdotium.“

Währenddessen gingen Benjamin zunehmend die Ränder aus, und er fühlte einen grausamen Druck, doch die Spinatteile zu essen. Und wirklich würgte er einen, der noch zu drei Viertel aus Teig bestand, hinunter. Schon der nächste, den er auf der Gabel hatte, war Hälfte-Hälfte zusammengesetzt. Er führte sie näher zum Mund, die Kehle schnürte sich zu, der Magen begann zu rebellieren. Die Augen zitterten beim Starren auf das Essobjekt, das sich nun wie von eigener Kraft als schummrige, braungrüne Masse näherte. Es war wie eine Hinrichtung.

„In Latein hast du immer eine Eins gehabt“, antwortete Andreasʼ Mutter indes.

„Freilich“, sagte Andreas bloß, sprechend aus einem versteinerten Gesicht.

Er sah zu Benjamin, aber begriff nichts von dessen Qual. Er stieß ihm nur mit der Faust auf den Oberarm, offenbar um ihn aufzufordern nun aufzustehen, wie er es selbst gerade tat. Überraschend kontrolliert gelang es Benjamin, die Gabel auf den Teller zu legen. Er vergaß aber völlig, sich bei der Mutter artig zu bedanken, und brachte auch sonst kein Wort hervor. Als die beiden die kleine Küche verlassen hatten und das Wohnzimmer durchquerten, kamen sie an Andreasʼ Vater vorbei, der im Lesesessel die Zeitung durchblätterte und nicht aufblickte. Seine Spinataversion war wohlbekannt, sodass man ihn gar nicht erst gefragt hatte, ob er mitessen wolle.

Zurück in seinem Zimmer sagte Andreas leidenschaftlich: „Auf so einem Niveau kann man nicht sprechen! Wirklich! Kein Mensch kann verstehen, was in meiner Seele vorgeht. Weil es außerdem unsagbar ist.“

Benjamin nickte. Er war immer noch betäubt von dem Geschehen in der Küche, war immer noch gefangen in dem Augenblick, als sich die Gabel seinem Mund näherte. Dass er sich jetzt hier in dem kleinen Zimmer befand, auf dem unteren Bett eines Stockbetts sitzend, während Andreas gegenüber am Schreibtisch Platz genommen hatte, dass links neben ihm ein Bücherregal war und unter seinen Füßen ein rot-weiß-schwarz gemusterter Teppich, dass seine Hände nicht bluteten und sein Gesicht wahrscheinlich auch nicht, dass er hören konnte, weil niemand seine Ohren abgeschnitten hatte, dass er antworten konnte, weil niemand seine Zunge herausgerissen hatte – das wirkte so unzusammenhängend und unverständlich und übermächtig wie ein ständig von Rauschen unterbrochenes Telefongespräch, das die andere Seite plötzlich mit: gut dass du es endlich machst beendet, ohne dass begreiflich war, was er denn eigentlich nun unbedingt tun sollte. Und Andreas redete, und Benjamin nickte.

An die Spinatgeschichte hatte er lange nicht mehr gedacht. Er stand im Mantel am geöffneten Fenster. Es war das einzige straßenseitige der kleinen, schlauchartig in das alte Gemäuer eingelassenen, wie hineingeschmuggelten Wohnung, während die beiden anderen, gleich neben der Eingangstür, in einen von mehreren breiten, großen Wohnhäusern gebildeten weiten Hof blicken ließen.

Benjamin lehnte am Fensterbrett und sah, mit verdrehtem Oberkörper die Straße hinunter. Er hatte als Erwachsener nichts Vergleichbares durchgemacht. Jetzt war er doch eher zufällig nach Hause gekommen, hatte seinen Spaziergang gar nicht beenden wollen. Darum atmete er, in bewusster, genießerischer Verachtung seiner Heizkosten, die für ihn erheblich waren, weiter die kalte Luft, die den Frühling unter sich zerquetscht hatte.

Die Straße war leer, die Tankstelle gegenüber still und verlassen, der Asphalt blass und grau im Neonlicht der Lampen, die, an Drahtseile gebunden, über der Fahrbahn schwebten. An einem Eck stand an ein Pfosten, der das runde, rote Schild trug, das die Einfahrt in eine Einbahn verbot. Gebunden an diesen Pfosten war, seit langer Zeit, vielleicht seit Jahren, ein Fahrrad ohne Vorderrad. Benjamin sah nun darauf, aber es war ihm schon lange vertraut als ein Bild schicksalhafter Einsamkeit. Sicher war Andreas jetzt ebenfalls einsam. Einmal war er von ihm zu einem Spaziergang aufgefordert worden, wie danach viele folgen sollten, bei denen Andreas von seinen inneren Erlebnissen und Zuständen zu berichten pflegte. Benjamin lächelte: wahrscheinlich war das sein erster bewusster Spaziergang gewesen. Auf die Idee, zweckfrei umherzugehen, war er von sich aus nie gekommen, ganz wie, Jahre zuvor, das Stehen in der Straßenbahn überraschend und abwegig gewesen war.

Einmal war Andreas zu einem vereinbarten Spaziergang nicht erschienen. Beim nächsten Mal gab er als Grund dafür an, „depressiv“ gewesen zu sein. Das war sehr beeindruckend, weil es Tiefe zeigte, schon in diesem Alter, während Benjamin selbst seine Nachmittage mit Fernsehserien verbrachte, die er zunehmend für idiotisch hielt. Bei diesen Einsichten hatte ihm ebenfalls Andreas geholfen.

Das musste ungefähr die Zeit gewesen sein, in der er notiert hatte, kein Zahnrad werden zu wollen. Die Müdigkeit. Vielleicht sind es alles Metamorphosen der Müdigkeit. Er erinnerte sich vage, dass das ein alter Gedanke sein musste, alle Unlust eine Form oder ein Produkt der Müdigkeit, ein Gedanke, den er vor Jahren regelmäßig gedacht hatte und der jetzt zurückkam wie ein Bekannter von früher, der einen ansprach, als hätte man sich seit damals kein Stück verändert. Du hast es dir zu einfach gemacht, aber irgendwas hat die Idee doch. Was daran war, konnte er nicht mehr bedenken. Sein Gehirn war ein schwerer, unbeweglicher Metallblock geworden, sodass Benjamin erkennen musste, auch gerade jetzt müde zu sein.

Im Bett liegend, fiel Benjamin ein, dass er in der Andreas-Zeit ständig müde gewesen war. Er hatte einen eigenen Begriff gemacht aus seiner „Nachmittagsmüdigkeit“. Aber ebenso aus seiner „Vorabendmüdigkeit“. Außerdem war er an jedem Schultag in der zweiten Stunde am Einschlafen, auf zuverlässige Art dysfunktional wie eine alte Waschmaschine. Dachte er, doch schon sprangen die Gedanken wirr, und schon hatte er etwas Musik im Ohr und schon schlief er ein.