Ich sagte mir, das Interesse an Friedhöfen sei vollkommen berechtigt, und nur weil man darin etwas Frivoles sehe könne, und nur weil ich wisse, sehr wohl wisse, dass dieser Vorwurf in Wirklichkeit mein eigener sei, mir aus der inneren Wirklichkeit springe, obwohl woher komme diese, so sei ich ja wohl dennoch nicht im geringsten verpflichtet, darauf zu hören, ja könne mir einen Spaß daraus machen, die innere Stimme unter anderen inneren Stimmen sei und sei dabei doch die einzige, die den Hochmut besitze, sich als Gewissen auszugeben, was nicht mehr sei als ein möglicher Name, eine Deutung, eine spielerische oder einfältige Selbstüberhebung wie ein Kind, das einen Zylinder aufsetze, und also ein Hochmut, den man mit boshafter Freude erniedrige, und mit „man“ meinest du „ich“, natürlich, mit Unverschämtheit gäbe ich es zu, was hielte mich auch noch zurück?
Gerade jenes Grab riefe auf, es ganz anders mit den Gräbern zu halten
Festzuhalten sei das Interesse an Friedhöfen als Interesse an Friedhöfen, man dürfe nicht verwechseln, panschen, mischen, das Interesse an Friedhöfen sei nicht das Interesse an Gräbern, an bestimmten Gräbern nämlich, das könnten nun die Gräber von Familien und Freunden sein, früh hinabgesunken oder spät, nah verwandt, nah bekannt – oder fern, man bringe Blumen, gieße sie, komme an besonderen Tagen, Feier- oder Gedenktagen, allgemeinen solchen oder persönlichen, all dies sei, ich musste mich nicht weiter daran erinnern, nicht die Sache, um die es gehe, an die ich dächte, die mir durch den Kopf gehe, die ich an mir gerne vorbeiziehen ließe wie ein Häufchen weniger wattig weißer Wolken, all dies, also, sei also nicht die Sache, und dasselbe gelte für das Interesse an Friedhöfen, das ich gehegt hätte vor dem Interesse an Friedhöfen, das folglich das Eigentliche und eben die Sache gar nicht sei, etwas ganz Triviales nämlich sei, das sei das Interesse an berühmten Gräbern, und sei das nun die Verehrung, die uns treibe, das Bedürfnis zu verehren, null und nichts, zum Beispiel, habe mich interessiert ansonsten am Kalksburger Friedhof, und ich sei geradewegs zugeflogen, oder gravitätisch geschwebt, von mir aus, ich erinnerte mich nicht einmal, das müssest du dir eingestehen, hin auf das Grab Hofmannsthals, der Verse darauf erinnerte ich mich sehr wohl, oder sei es, ganz anders, aber auch das hätte ich fleißig getan, zumal in Paris, wo es entsprechend viel zu holen gebe, und es sei ja in der Tat die peinlichste, wertloseste Beute, die man sich vorstellen könne, und ich müsse ja wohl nicht mehr aussprechen, dass ich von den prominenten Gräbern spräche, so, als Spitze des Eisbergs gesprochen, Heine, Baudelaire, Wilde, Abelard und Heloïse, Sartre und Simone, Jim Morrison, Proust, Chopin, Bizet und so weiter bis zu allen Berühmtheiten, die zusätzlich gestorben seien, seit meinem damaligen Aufenthalt, und gerade das Grab von Oscar Wilde, weithin als außergewöhnlich hässlich bekannt, es solle wohl einen Engel vorstellen, unwirklich, überweltlich, leicht wie Beton, gerade jenes Grab riefe auf, es ganz anders mit den Gräbern zu halten, als man es gerade mit ihm halte, das allenthalben beschmiert sei, so mit dem Spruch you were a sphinx with a secret, eine intelligente und tiefsinnige Hommage ohne Zweifel und eine unter vielen, aber dennoch mir eine Lehre, sagte ich mir nicht ohne Stolz, und jedenfalls ein wesentlicher Wegweiser zum wahren und eigentlich gültigen Interesse an Friedhöfen.
Dieses Erlebnis möchte zugleich an der Wiege des Frivolitätseinwandes stehen, aber das könne man nun schwerlich als Unglück bezeichnen, sei er auch manchmal und teilweise und in gewisser Hinsicht gewissermaßen unangenehm, so könne man sich, und könne ich mich, zumal, letztlich nicht beklagen entscheidenderweise, denn gerade dieser Einwand gehe hervor aus einem Gefühl, das auch die Voraussetzung sei für das wahre Interesse an Friedhöfen, und für dieses sei es ja eigentlich und strenggenommen wesentlich, so mahnte ich, selber streng, dass es kein Spaß sei, sein dürfe, und kein Hobby und nicht einmal ein „Interesse“, freilich hätte ich schon bedacht, dass ich mich um den Betrug nicht sorgen müsse, der in einem Interesse ohne Interesse liegen möchte, und zwar ohne dass damit das „materielle Interesse“ gemeint sei, gemeint sei vielmehr in der Tat das Interesse, darauf bestand ich mir selbst gegenüber.
Ich solle nicht anfangen, Stimmen zu hören.
Eine wirkliche Eigenheit und vielleicht eine verräterische Eigenheit sei auf Friedhöfen, das beschäftige mich immer wieder, sei also das Wetter und sei die Eigenheit, dass es für Friedhöfe, für Besuche auf ihnen, kein Wetter gebe, das wirklich und voll und ganz schlechtes Wetter heißen könne, staunte ich auch nun wieder, der bedeckte Himmel nicht und ebenso wenig, obwohl dessen Gegenteil, der strahlende Sonnenschein, nicht Regen oder Schneefall, keineswegs, und genauso fügten sich rascher oder langsamer Wechsel von Sonne und Wolken, fügten sich steiles Mittagslicht und zartes Abendglühen, flössen rauer Wind so gut wie sanftes, stilles Weben sinnvoll in das Ganze, aber was sei es?, eine Stimmung?, das könne wiederum alles heißen, eine Kulisse?, sicherlich, dabei jedoch stets sorgsam ausgesucht, aber das heiße, alle seien gut und dabei doch alle sorgsam ausgesucht, da habest du dir etwas Merkwürdiges ausgedacht, musste ich mir sagen. Sicher, man gehe spazieren mit dem Gedanken an den Tod, dem Verhältnis von Leben und Tod, und in der Tat sei es ein Spaziergang, kein anderer Gang, nicht „ernster“, „tiefer“, „höher“, dabei ohne Zweifel ernster, tiefer, höher, doch wessen aber nun sei diese undramatische Stimmung, sei es die eigene Sterblichkeit, darauf wollest du doch hinaus, du sehest es doch selbst, und vielleicht ganz zu recht, vielleicht und womöglich, denn vielleicht ist gerade die undramatische Stimmung hier die richtige, und so bestehe die Möglichkeit, und man könne es ja nicht so recht und ganz ausschließen, hier sei auch eine besondere Beschaulichkeit erreicht, die jedes Wetter als gut und schön annehme und zwar annehme und nicht gleichgültig sei, und wie rasch sei man nicht eingeladen, ein Symbol darin zu sehen, und welches könnte zum Tod nicht passen, doch war ich mit diesem Gedanken nahe daran, mich zu ermahnen, ich solle nicht anfangen, Stimmen zu hören.
Der jüdische Teil des Zentralfriedhofs war traumhaft verwildert, unleugbar romantisch, war verlassen und durchwachsen von Büschen und Bäumen und Gräsern und mehr noch als der Sankt Marxer Friedhof, dessen Steine freilich nicht gezeichnet waren mit denselben häufigen bedenklichen Todesdaten und Sterbeorten. Ich kam schon an sein Ende, verließ ihn, trat auf eine breite Allee, die jedoch linkerhand zunächst, auf ein Stück, ohne Bäume war. Hier lag eine weite Grünfläche, die erst teilweise eingenommen wurde, und der weite blaue Himmel beugte sich darüber. Ein kleiner, weißer, etwas struppiger, etwas dreckiger Hund kam herausgetrippelt, zuerst auf mich zu, dann an mir vorbei. Ich wollte nach dem Besitzer blicken, ihm vielleicht winken, doch es war kein Mensch zu sehen. Während ich in alle Richtungen geschaut hatte, war der kleine Hund irgendwo am Friedhof verschwunden.
Erstmals erschienen in: Erostepost 51 (Dezember 2015)