Der Sohn

Es war nicht lange nach meinem achtzehnten Geburtstag. Mein Vater, der große Theaterregisseur, hatte eingeladen, und aufgrund seines weiten Bekanntenkreises in Kunst und Wirtschaft und Politik, aus dem er wählen konnte, hielten alle die Veranstaltung für grandios und exklusiv zugleich.

„Es ist das Who-is-who!“, lachte blasiert eine etwa fünfzigjährige Bezirksvorsteherin.

Zusammen mit einer nur wenig jüngeren Photographin querten wir das große, de facto Wohnzimmer mit Glasfront. Die meisten Gäste befanden sich im Garten, wo die Luft immer noch lau war. Wir kamen in ein schmales, dunkel vertäfeltes Zimmer, mehr ein Durchgang, aber ebenso der Ort einer kleinen Porträtgalerie, alles Fotos von Familienmitgliedern, allesamt geschaffen von eben jener Photographin, Heidi.

„Ein schöner Bub. R-eizend!“, rief die Bezirksvorsteherin.

Ich war das, was man da sah, als Zehnjähriger. Heidi, breite Wangenknochen, breite Schultern, große Brüste, sah auf das Bild, dann auf mich, ein Blick, den ich zu ignorieren versuchte, indem ich den zarten Linien meines einstigen Gesichts mit den Augen nachfuhr. Im einen Moment glaubte ich, das sei ein glücklicher Knabe, im nächsten, ein trauriger. Wirklich ein tolles Foto.

„Eigentlich ein tolles Foto“, sagte ich.

Nun war ich bereit Heidis mächtigen, schwer zu ertragenden Blick zu begegnen, doch sie hatte ihn schon wieder auf ihr Werk gerichtet, das sie lustvoll betrachtete.

„Damals hat es doch geheißen, du kannst so gut zeichnen“, sagte die Bezirksvorsteherin, und die Mischung aus harmlos anekdotischem und schmeichelndem Ton machte mir plötzlich klar, warum sie in ihrem Geschäft früher so erfolgreich gewesen war. Sie setzte fort: „Und, außerdem, erinnere ich mich, hast du auch so toll Klavier gespielt–“

„Vielleicht für einen Zehnjährigen“, unterbrach ich.

„Na, na, keine falsche Bescheidenheit. Und wenn man dann noch so ein stattlicher junger Mann ist, haha. Das Theatertalent sieht man dir ja ebenfalls an, das merkt man an der Körperhaltung und an der Stimme. Oder schreibst du? Sicher, oder? Du machst wahrscheinlich bald die Matura. Was willst du denn dann machen?“

„BWL studieren.“

„Haha. Sehr gut. Sonst fehlt den Künstlern oft der Humor. Außer den Photographen, haha.“

Die Politikerin war betrunken, aber das bewältigte sie leidlich elegant. Dennoch hatte ich ihre Gesellschaft satt. Zum Glück fiel es ihr von selbst ein, weiterzuflattern. Ich hatte meinen Unterhaltungswert verbraucht. Sie sagte, an uns beiden vorbeischielend: „Geh, schauts, ist das nicht der Vorstand von S…“

Der Vorstand, der absurd großgewachsen war, wahrscheinlich zwei Meter zehn, stand mit meinem Vater und meiner Freundin bei der Tür zum Garten. Alle hielten Whiskygläser. Da im Zimmer noch keine Lampe eingeschaltet und es draußen schon dunkel geworden war, bildete die Gartenbeleuchtung ein weißliches Gegenlicht, das diese Gruppe dreier so ungleicher Silhouetten zu einer unheimlichen Einheit verband.

Es war für meine Freundin die erste Veranstaltung dieser Art. Sie war begeistert. Dementsprechend war es natürlich ungerecht, wenn dieser Enthusiasmus auf mich einen dummen Eindruck machte. Jetzt konnte sie sich, obwohl erst siebzehn, von diesen beiden Gentlemen, von deren Geschick ich einen gewissen Begriff hatte, als Dame behandeln lassen und ihren kleinen Geschichten, in denen große Namen vorkamen, mit schwer zurückgehaltener Begierde zuhören. Zugleich hatte sie mein Vater, durch das Getränk, in die hohle Kumpelhaftigkeit einer scheinbaren Bohème hineingezogen. Wie ich den Vorstand der Firma S… einschätzte, war er zweifellos zu fein, um eine Siebzehnjährige anzufassen, doch bei meinem Vater war ich mir da nicht so sicher. Allerdings war es mir auch egal.

„Geh nur zu ihnen rüber, wenn du willst“, sagte Heidi. Ich wusste, dass sie, wie aus dem Hinterhalt, genau beobachtete, um mit ihrem Photographenblick die Formen aus der Wirklichkeit zu schneiden. Sie hatte eine schmale Kamera für solche Gelegenheiten dabei, doch irgendetwas schien sie abzuhalten. „Oder willst du nicht?“

„Eigentlich nicht.“

Nun fasste sie mich, wie früher, an der Hand. Ich reagierte nicht. Dann nahm sie den Oberarm, dann das Handgelenk, aber alles war gleich unpassend. Jetzt ging sie einfach, und ich folgte ihr, weil ich sonst zwangsläufig zu jener Gruppe gezogen worden wäre.

Wir schlenderten durch das Haus. In der Küche brannte Licht, hier machten sich die Angestellten des Caterers zu schaffen. Im Flur standen eine Schauspielerin, dürr und blond, und ihre Begleitung vor dem Spiegel. Als sie uns bemerkten, schienen sie wegspringen zu wollen wie aufgescheuchte Rehe. Es leuchtete mir nicht ein, bei welcher Sache wir sie unterbrochen haben könnten. Bei einem Gespräch. Worüber könnten sie gesprochen haben? Über mich? Über uns? Sie mussten sich kurz bemühen, gefasst und höflich zu wirken. Heidi bemerkte sie kaum, wir gingen die Treppe hinauf.

Die Tür vom Schlafzimmer meines Vaters öffnete sie und drehte sich zu mir um. Das kennst du doch schon, wollte ich ihr sagen, konnte es aber bei einem Stirnrunzeln belassen. Vielleicht gelang mir das nur, weil ihre Augen halb geschlossen waren: das erinnerte mich an nichts. Ich verstehe nie, was sie meint.

Am Ende des Korridors lag ein Raum, der von den hohen, vollen Bücherregalen an zwei Wänden beherrscht wurde und dessen Fenster nach Osten ging, wo es jetzt schon längst tiefe Nacht war. Vor diesem klassischen Kastenfenster stand ein Schreibtisch, darauf eine alte Lampe mit einem Schirm aus grünem Email, einige Bleistifte und ein Exemplar des Lumpazivagabundus.

„Unglaublich“, sagte ich.

„Endlich sagst du was“, erwiderte sie. „Was ist unglaublich?“

„Ich bin hier nicht oft. Gar nicht. Wahrscheinlich das letzte Mal als Kind, wahrscheinlich nur das eine Mal, als ich das Zimmer entdeckt habe und gesehen habe, dass hier nichts ist. Und jetzt fällt mir eben auf, dass ich noch nie etwas Kahleres und Toteres als diesen Schreibtisch gesehen habe.“

Tatsächlich waren die Bleistifte so gespitzt, dass man damit Ameisen erstechen konnte, das Buch wirkte, obzwar alt und vergilbt, dennoch unberührt, und die Lampe stand mit ihrem Schirm genau parallel zur Längsseite des Tisches und die andern Objekte lagen exakt im rechten Winkel dazu.

Das einzige Licht ging nun von dieser Lampe aus, was den Raum eigentümlich schrumpfte. Die Bronze einer Kleinplastik, eine zierlich das Bein anziehende Ballerina von Degas, wirkte dadurch schwärzlich und flüssig. Sie stand auf einem kleinen Biedermeierkästchen, hell, aus Nussholz.

Heidi hatte nicht das Deckenlicht eingeschaltet, nicht die Stehlampe. So war ihr Gesicht plötzlich glatt und gedämpft rötlich, man hätte sie höchstens auf 35 geschätzt. Sie begann: „Weißt du, die F…, ich meine, sie ist wirklich eine Nervensäge, aber sie hat eine gute Frage gestellt: was willst du eigentlich machen?“

„Was meinst du damit?“ Mit dir vielleicht? Du bist eine Nervensäge. Wäre ich nur nicht hier, nicht in diesem Zimmer, nicht in diesem Haus.

„Was deine Berufung ist… Du bist talentiert, kannst praktisch alles, alle Türen stehen dir offen.“

„Das meinst du“, sagte ich, als hätte ich es nicht sofort verstanden. „Mein Job.“

„Ja, wenn du es so nennen willst.“

„Das habe ich doch schon gesagt: ich will BWL studieren.“

„Echt?“

„Glaubʼs mir.“

Ich habe mir immer etwas anderes vorgestellt.“ Sie trat auf einen halben Schritt zu mir heran.

Was denn?“

Ein Künstler natürlich. Wir haben doch immer dieses Leuchten in dir gesehen. Dieses tiefe Glühen wie auf dem Foto unten. Oder wie das helle Strahlen auf dem weißen Fleisch als du dreizehn warst.“ Damals hatte sie Aktbilder von mir gemacht und ein wenig mit der Belichtung gespielt.

Das ist halt dein Job. Jeder hat einen Job. Und dein Job ist, dass du Sachen siehst, die nicht da sind, und sie dann photographierst. Ist ja auch in Ordnung.“

Aber träumst du nicht davon… von dem Glanz der Vernissagen und Premieren? Oder von Parties wie heute? Wenn du sagen kannst, wie lästig die Politiker und die Reichen und die schönen Mädchen schon wieder waren. Nicht nur so etwas natürlich…“ Jetzt hielt sie mich bei der Hüfte und sagte sanft: „Eine Arbeit, die ganz deine Seele ausdrückt, nämlich so, wie du sie selbst ansonsten nicht gekannt hättest. Niemandes Befehle. Eine Freiheit zu lauschen, nach innen und nach außen. Das Ohr und das Auge des Universums, und zugleich sein Herz.“

Schau…“, erwiderte ich zerstreut.

Ich machte mich los und trat zur Seite und stieß den Degas von dem Kästchen. Die Bronze schlug dumpf am Boden auf. Heidi blickte mich ungläubig an. Das verschaffte mir die – völlig unerwartete – Befriedigung zu sehen, dass sie nichts verstand, dass sie nicht mächtig war, dass die Welt sie überforderte. Dass sie mich nicht begriff und nicht kannte, dass ich unerkannt war, dass ich unerkennbar war.

Ist das ein Original?“, fragte sie bestürzt.

Keine Ahnung.“

Keine Ahnung?!“

Ich dachte wenn, dann weißt du es.“

Ich weiß es nicht“, sagte sie, wieder gefasst.

Heidi hatte die Statue aufgehoben. Sie war, so weit man es sehen konnte, unbeschädigt.

Hast du eine Vorstellung“, meinte ich, halb in der Tür stehend, „warum er dieses unnötige Zimmer hat, wenn er hier anscheinend nie ist und an dem Schreibtisch nie schreibt?“

Sie schüttelte den Kopf. Mit der Lampe hinter ihr, konnte ich das Gesicht nicht erkennen, doch die Schultern waren etwas eingefallen. Um sie zu trösten oder abzulenken, ich wusste nicht warum oder wovon, ging ich zu ihr und sagte mit aufgewecktem Tonfall: „Weißt du was, ich wette, er bereitet schon vor, dass hier ein Museum eingerichtet wird.“

Er wird ein Nachleben haben.“

Er lebt jetzt schon für zwei.“

Wann habe ich das erste Mal begriffen, dass sie mit mir schlafen will? Seit ich fünfzehn oder sechzehn bin, habe ich eigentlich Angst vor ihr. Und deswegen ist auch alles Einbildung.

Gehen wir wieder runter?“, sagte ich. Dabei schreckte ich etwas auf, weil ich damit, fühlte ich, irgendwie aussprach, dass wir ohne offen eingestandenen Zweck ins Obergeschoss gegangen waren.

Unten im Garten gingen wir den Menschen aus dem Weg. Es wurde kühl und die Bäume begannen zu atmen. Das Silber des Mondes verschwand, als der Himmel zuzog.

Ein Jahr später hatten wir doch eine Affäre. Sie photographierte mich wieder. Bilder von meinem Schwanz sind jetzt in einem Museum. Aus mir wurde nie etwas, und ich wollte es auch nicht.