Die Flucht nach Ägypten

Markus saß neben seiner Schultasche im Bus. Es war heiß im Bus, unklimatisiert, und die Sonne starrte durch die Fenster. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, obwohl er jede Bewegung vermied. Auch seine ansonsten wühlenden, tüftelnden und quietschenden Mitschüler waren von der Hitze geschlagen. Sie waren teilnahmslos und zu müde noch, um sich zu langweilen. Markus‘ Sorgen rund um die letzte Schularbeit schwanden, schwanden und ordneten sich ein in jene Suppe gleichgültiger Ereignislosigkeit. Obwohl von seinen Eltern nichts zu befürchten war, hatte ihn doch Angst umgetrieben, ihnen von der unterdurchschnittlichen Leistung zu berichten. Dabei war sie unterdurchschnittlich nur für seine Verhältnisse; dementsprechend hätte er niemandem in seiner Klasse sein Leid verständlich machen können. Die Büsche und dahinter die gelben Felder glitten am Busfenster vorbei. Wie im Fiebertraum wurde ihm der Zwang deutlicher und deutlicher, dass er gleich aussteigen würde müssen.

Markus fühlte sich über diesen Zufall wie eine Art Nostradamus.

Zu Hause schloss er die Tür hinter sich ab. Vermutlich hatte ihn seine Mutter nicht überhört und würde gleich aus irgendeinem Zimmer zur Begrüßung laut rufen. Dennoch zog Markus seine Schuhe so leise aus, wie er konnte.

„Haallo!“, schallte es schließlich zu ihm. Doch Markus hatte auch die wenigen Sekunden genossen.

Die Mutter war ansonsten berufstätig, aber in diesen Monaten war sie nicht im Büro, sondern zu Hause im Haus, wo sie sich um Felix kümmerte. Das war Markus‘ kleiner Bruder im Säuglingsalter. Die Entscheidung für ein weiteres Kind, sechzehn Jahre nach der Geburt des ersten und bisher einzigen, hatte ihn nicht wenig überrascht, genauso wie die gesamte nähere und fernere Verwandtschaft. Aber da der Vater „ein völlig neuer Mensch“ war, und die Mutter ihm dies geglaubt hatte, war es doch so gekommen.

„Schaust du kurz nach dem Kleinen“, sagte die Mutter abwesend im Vorbeigehen, aufgedunsen wie sie war, schleißig angezogen und mit ungewaschenem Haar. Mit einem halben Blick aus glasigen, blass gewordenen, schwarzen Augen hatte sie Markus passiert.

Markus ging ins Kinderzimmer. Es war himmelblau gestrichen, von ihm selbst und auf seinen Vorschlag hin. Felix schlief, atmete sanft und süß und regelmäßig. Er verbarg seine Augen, die dasselbe Blau hatten wie die Zimmerwände. Markus fühlte sich über diesen Zufall wie eine Art Nostradamus. Er hatte beim Ausmalen nicht mehr gekannt, als das Geschlecht des Kindes. Er umschlich das kleine Kinderbett. Unten hörte er die Mutter in der Küche werken. In eigentümlicher Art befanden sich seine Empfindungen für Felix in der Schwebe. Es gab gegen den Kleinen nichts einzuwenden, natürlich, aber irgendetwas fehlte, und Markus hielt sich dabei zurück, ihn ins Herz zu schließen. Dabei war der Kleine unfehlbar sympathisch, zum Beispiel wenn er sein Köpfchen reckte, mit den runden Backen und den gezählten drei Haaren. Trübweiße Wolken standen vor Markus von denen er aber wusste, dass irgendwie die Sonne dahinter sich bergen musste; denn trotz aller Wolken war die Welt dennoch erhellt. Er schlich um das Kinderbett herum und wusste auch, dass diese Dämpfe und verfremdende Bewölkung sich über viele Dinge zog. War die Schule ein Ort für wirkliches Glück und wirkliches Leid? Oder der Sport? Oder die Bücher? Aber nicht einmal die Freundin war es.

„Gleich ist Essen!“, rief die Mutter.

Markus wollte antworten, aber unterließ es. Nicht, dass er es durch sein Schweigen je geschafft hätte, in Frieden gelassen zu werden. Er starrte Felix an: Wundersame Welten rührten sich hinter dieser hohen Stirn. Was es auch war, es war keine himmlische Ruhe. Es war diese Bewegung und leicht zuckende Kräftigkeit auch kein Alptraum, falls Säuglinge so etwas haben konnten. Etwas war in ihm. Markus wurde von einer wilden Zärtlichkeit erfasst und dachte: „Du nicht.“

Allerdings blieb keine Zeit zum Durchschnaufen. In höchstens zwei Minuten würde die Mutter im Kinderzimmer nachschauen.

„Essen!“, rief die Mutter wieder.

Unter dem Popo und den Schultern greifend, hob Markus seinen Bruder unbeholfen auf. Er wickelte ihn in eine Decke und legte ihn auf den Arm. Er wollte das Zimmer schon verlassen, da tat er einen Schritt zurück und setzte Felix noch sein Häubchen auf. Ganz an die Wand gedrängt ging er die Stiegen hinunter. Das Holz knarrte fast überhaupt nicht. Aus der Küche hörte er das dunkle Klopfen, mit dem die Mutter die Teller auf den Tisch stellte. Ohne zu Atmen trat Markus ins Vorzimmer. Er sah die Schuhe, aber dafür blieb keine Zeit. Er sah nicht auf den Kleinen, denn er wusste, dass er ihn nicht würde verraten. Als er nach dem Schlüssel griff, der im Schloss steckte, bemerkte Markus den Schweiß auf seinen Fingern. Sein Herz wollte aus der Brust springen, aber er verweigerte weiterhin, einen Atemzug zu tun. Es war schwierig, den Druck auf den Schlüssel so langsam aufzubauen, dass er ihn geräuschlos umdrehen konnte, mit den nassen Fingern zumal. Unsäglich langsam drehte er und kam gerade an den Punkt, wo das Schloss immer mit einem lauten Klack aufsprang. Er drückte mit unendlich kraftraubender Zurückhaltung. Und es gab doch ein kleines Klack. Die Tür war einen Spalt weit offen, und draußen tat sich nichts, und drinnen hörte er – keine Schritte. Eine Schublade wurde aufgezogen. Die Mutter kramte Besteck hervor. Markus trat mit dem Säugling am Arm ins Freie. Er spürte die harten Bodenfliesen durch die Socken. Er lehnte die Tür im Rahmen an, es war eine gute Tür, die nicht gequietscht hatte. Nachdem er mit drei Schritten den pfortenlosen Vorgarten verlassen hatte, nahm Markus endlich seine Atmung wieder auf.

Allerdings blieb keine Zeit zum Durchschnaufen. In höchstens zwei Minuten würde die Mutter im Kinderzimmer nachschauen. Entschlossen, jedoch ohne Hast, ging Markus die Straße hinunter. Kastanienbäume spendeten ein wenig Schatten. Dennoch war es heiß genug, der Wind legte sich. Er richtete die Augen auf den rissigen Asphalt des Gehsteigs, drehte sich nicht um nach seinem Elternhaus, das nicht vornehmer aussah als ein besseres Fertigteilhaus, gestrichen in einem geschmacklosen Grün. Bei der ersten Ecke bog Markus ein.

Er kam auf eine breitere Straße, an Reihenhäusern vorbei. Der kleine Felix schlief, aber wohl nicht mehr lange. Die Straße stieg nun leicht an, es war kein Verkehr. Auch begegnete den Brüdern kein Fußgänger, dabei hatte Markus schon nach Ausreden für die eigentümliche Situation gesucht. Noch hatte er keine gefunden: In welcher Lage vergisst man seine Schuhe? Wenn das Haus brennt, vielleicht. Und jetzt laufe ich mit dem Kleinen zum Krankenhaus, ob er auch keine Rauchgasvergiftung hat. Aber jeder Passant hätte gesagt, du bist ganz verwirrt, Bursche, das Krankenhaus ist in die Richtung; und jener Passant hätte dorthin gezeigt, von wo Markus gerade gekommen war. Er fasste keinen klaren Gedanken, ging trotzdem rasch voran. Zu seiner Rechten ein Gasthaus: Es war leer. Nicht einmal die zwei Alten saßen davor auf ihrem Tisch, obwohl sie an jedem sonnigen Tag dort saßen, jeder mit gerade noch einem Schluck Bier im Glas. Zu seiner Linken ein Autohändler, doch vor dem Glasbau ein leerer Parkplatz, ein angehobenes Auto ohne Räder. Da hatte Markus auch schon die Ortstafel hinter sich gelassen.

Felix wachte mit müde blinzelnden Äuglein auf. Er schrie nicht, und Markus drückte ihn etwas enger an sich. Sie wanderten an einem Kanal entlang durch eine Landschaft grüner Weinberge. Niemand passierte sie, nicht Läufer, Rad- oder Rollschuhfahrer, nicht Einheimische, Auswärtige oder Bauern. Als Markus zu einer fernen Hügelkuppe spähte, sah er die Kappelle nicht, die dort ansonsten immer sichtbar war. Nun führte der kleine, jedoch asphaltierte Wander- und Radweg unter der Schnellstraße durch. Markus umklammerte seinen Bruder fest, um ihn vor den dicken Spinnen zu schützen, vor denen ihm grauste und die insbesondere am Eingang der Unterführung saßen und lauerten. Doch ihre Netze, weit ausgespannt, waren öde und verlassen. Die Brüder ließen die unbefahrene Schnellstraße hinter sich. Die langen, wie ein Kamm in immer neuen Schwüngen durch die Welt gehenden Rebstöcke waren verschwunden. Gelbe Felder und grüne Wiesen, mehr gab es nicht. Nur inmitten davon der Wanderweg, zu Staub und Stein geworden, und Markus und Felix. Und obwohl nicht viel Zeit seit dem Beginn der Flucht vergangen sein konnte, neigte sich auch der Tag dem Abend zu.

Die gesamte Umgebung war nun fahl und farblos geworden. Es war ein Gelb darin, ja, aber entlassen oder bankrott, ruiniert oder entmachtet.

„Du hilfst mir“, sagte Markus in warmem Ton zu Felix, dessen Gleichmut und schweigsames, stilles Ertragen er bewunderte. Felix kreischte nicht und quiekte nicht, sondern tat nicht mehr, als seinen Bruder neugierig zu beäugen.

Außerdem wurde es kühler. Es schien, als ob die Sonne je mehr sie sich zu glühen mühte und je röter sie also wurde, umso hilfloser dabei war, das Land zu erwärmen; oder aber als ob sie die Wärme in sich einsog, wieder zurückforderte, was sie unter Tags so reichlich ausgeschüttet hatte. Markus fröstelte es etwas, aber umso bestimmter beschleunigte er seinen Tritt. Die gesamte Umgebung war nun fahl und farblos geworden. Es war ein Gelb darin, ja, aber entlassen oder bankrott, ruiniert oder entmachtet. Markus spürte Sand unter seinen Socken. Der Horizont hatte sich zu einer Linie eingeebnet, unendlich lang und unendlich fern, wie im Meer, wie in einem einsamen Ruderboot ohne Ruder am weiten Meer. Doch Markus und Felix ängsteten sich nicht. Die Sonne war fort und irgendwie war die Nacht auch angebrochen. Bloß war der Himmel nicht schwarz, sondern blau. Es war ein mattes Blau, nicht hell und nicht dunkel, eher wie von Wolken gefressen. Wolken waren aber den ganzen Tag und Abend nicht zu sehen gewesen. Ebensowenig wie nun die Sterne. Kein einziger. Dennoch war nicht zu bezweifeln, dass Nacht war, oder zumindest der Tag vorbei.

Durch diese von der Erde zum Himmel reichende und scheinbar keine Ausnahme duldende Einförmigkeit stapfte Markus immerfort dahin. Und obwohl er nun länger und länger ging, spürte er keinen Kräfteverlust. Bloß vermisste er, mit dem leichten Anstrich eines Gefühls, die Sterne über seinem Kopf. Felix war ständig wach, auch wachsam und abwartend. Das Gewicht des Kleinen, selbst über die lange Zeit hin, war kaum eine Last.

Markus ging auf die Pyramide zu. Sie war nicht mehr, als ein einzelner, ferner Zacken am Horizont. Es war nicht möglich, ihre Größe zu verstehen: jeder Vergleichsgegenstand fehlte. Es gab keine Menschenspur und es gab keine Sterne. Es gab nur den Sand, der kaum fest war und unter seinen Füßen zerstob. Und es gab jenes namenlose Blau um Markus und Felix herum.

Der Kleine setzte sich auf die Schulter des Bruders und saß damit zum ersten Mal überhaupt. Er ließ sich keine Unsicherheit anmerken, trotzdem hielt Markus eine Hand an seine Seite, um ihn zu stützen. Sie waren treu verbunden. Da standen sie auch schon vor der Pyramide. Markus fragte sich, ob hier wohl jemand wohnte, bei dem sie für ein paar Stunden unterkommen konnten. Und obwohl Felix skeptisch war, gingen sie rund um das enorme Monument herum. Das dauerte wenigstens zwanzig Minuten, und sie fanden keinen Eingang. Sie setzten sich auf die unterste Stufe, die aber allein schon so hoch war, dass Markus‘ Füße in der Luft baumelten. Felix stieß einen warmen Laut in abfallender Tonhöhe aus: „Hmmm.“ So zeigte er seinem Bruder, dass jeder Gram über seinen Irrtum unnötig war. Doch Markus reute viel mehr, nun wo er endlich Zeit zum Nachdenken hatte. Ihn reute vor allem, dass er seinen kleinen Bruder in dieses Niemandsland gebracht hatte. Ohne Unterkunft, ohne Wasser, ohne Ziel. Hätte er ihn aber, andererseits, zurücklassen können? So schwankte Markus zwischen Reue und Entschlossenheit, bis er sich wieder über dem kleinen Kinderbett sah, wo aus der leichten, für andere vielleicht unmerklichen Unruhe hinter den Augen und der Stirn des Kleinen etwas sprach, über das sich genau Rechenschaft abzulegen, freilich auch Markus nicht imstande war. Aber genau darüber schwanden bei ihm alle Zweifel. Eine wirkliche Richtung kannte seine Entschlossenheit darum nicht, und er wusste nicht, was nun.

Da merkte er, wie Felix sich rührte. Er hatte ihn auf seinem Schoß sitzen lassen, um ihn vor dem kalten Stein zu bewahren. Nun streckte er sich und schien nach oben zu zeigen, auf die Spitze der Pyramide. Markus erhob sich, aber war von dem Plan nicht überzeugt. Das Land war flach wie nach der Wasserwaage angelegt, wie sollten sie also oben sehen, was sie hier nicht sahen, wie sollte dort erscheinen, was an diesem leeren und unendlich fernen Horizont nicht erschien? Felix stand auf den Schultern seines Bruders und umklammerte dessen Stirn. Markus legte die flachen Hände auf die nächste Stufe, die sich ihm in Brusthöhe entgegenstellte, und stemmte seinen Körper in die Höhe. Dann warf er das rechte Bein auf die Fläche der Stufe und hievte schließlich den Rest seines Körpers hinauf. Diesen Ablauf musste er bei jeder Stufe wiederholen. Er wusste, dass es hundert Stufen waren. Felix aber achtete dieser Mühen kaum, sondern blickte bloß zielgerichtet zur Spitze.

Doch schon nach zwei Atemzügen, so tief und erholsam sie auch waren, konnte er seine ungeduldige Neugier nicht mehr beherrschen.

„Du musst ja auch nicht das Klettern übernehmen“, scherzte Markus.

Dennoch kam alles so, wie Felix es vorhergesagt hatte. Zuerst schien sich die Lage zu verschlimmern, als der Himmel endlich nachtschwarz wurde, und man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Eigentlich war es unerklärbar, wie auch nur dies möglich war. Aber es dauerte nicht lange, bis hinter dem Gebirge der Mond aufging. Das zaghafte Licht der bescheidenen Sichel verstärkte sich langsam. Wenige Stufen vor der Spitze stand der Vollmond über den Brüdern. Die kreisrunde Scheibe mit ihren dunklen Flecken war klar erkennbar, keine Wolken und keine Sterne begleiteten sie. Bloß war der Mond in einen gelben Schleier gekleidet, der ihm eine unheimliche Lebendigkeit verlieh. Es war kein Giftgelb, kein Zitronengelb, aber auch kein Dottergelb. Jedenfalls aber gelb.

Markus und Felix erreichten die Spitze. Es war Platz genug, um sich hinzulegen, und der erschöpfte Markus tat es, noch bevor er sich umsah. Doch schon nach zwei Atemzügen, so tief und erholsam sie auch waren, konnte er seine ungeduldige Neugier nicht mehr beherrschen. Er richtete sich auf. Immer noch war das Land flach wie mit dem Lineal gezogen. Doch den gesamten Horizont, in allen Richtungen, machten nun Berge aus, deren Formen er nicht näher erkennen konnte: Es handelte sich bloß um wild gezackte, verworfene, zittrige Umrisslinien, die sich vielfach krümmten wie vor grauenvollen Schmerzen oder übermächtigen Genüssen. Zwischen Pyramide und Gebirgskar aber lag auf halbem Weg ein Brunnen.

Felix wollte sofort hinunter in dessen Richtung. Obwohl er sich nie über Durst beklagt hatte. Markus jedenfalls ruhte noch einige Minuten aus. Er bewegte sich nicht, worauf ihn der ungeduldige Felix, der neben ihm stand und doch gerade in die Augen seines aufgestützten Kopfes schauen konnte, wild am Kragen zerrte. Markus lachte und bändigte sanft die Hand des Kleinen. Der erste Windhauch seit dem Beginn ihrer Flucht wehte sie an. Ganz lau und ganz kurz, so kurz, dass sich Markus gleich fragte, ob er überhaupt mehr gewesen war, als eine flüchtige Erinnerung. Mit erneuertem Elan schulterte er Felix und machte sich wieder auf den Weg.

Einmal am Fuß der Pyramide, schien der Brunnen fern. Doch nach ein paar Schritten hatten sie ihn schon erreicht, und nun schien die Pyramide fern. Sie waren nicht durstig, aber der Brunnen war ohnehin leer. Ein kleiner Abschnitt wurde vom gelben Mond erleuchtet, darunter war nichts mehr zu erkennen. Markus hatte keinen Beweis für die Leere und Grundlosigkeit des Brunnens, bedurfte allerdings auch keines solchen.

„Und warum wolltest du unbedingt hierher kommen?“, fragte er Felix, der stumm blieb. „Andererseits hast du Recht: Wohin hätten wir sonst gehen sollen?“

Felix war trotz des scheinbaren Misserfolgs zufrieden. Vielmehr schien der kleine General schon seinen nächsten Zug auszuhecken.

Markus setzte sich nieder und lehnte an den kalten Stein des Brunnens. Die Hitze hatte sich mit dem Verschwinden der Sonne ja schon lange verloren. Endlich zog er die Socken aus, die längst gezeichnet waren, von Schweiß und Verschleiß und Dreck. Er hielt sie vor seinen Augen, schwarz und schon etwas durchscheinend an den abgenutzten Sohlen, auch braunstaubig, so betrachtete er sie mit distanziertem Ekel. Nun hatte er doch etwas, das er in den Brunnen werfen konnte. Ein Experiment sollte seine Eingebung überprüfen. Er füllte die Socken mit Sand und wand sie ineinander, um ein möglichst schweres Versuchsobjekt hervorzubringen. Dann aber warf er es ohne hinzuschauen über die Schulter in den Brunnen. Leider war niemand da, der seine Lässigkeit bewundern konnte, außer Felix, der sie freilich missbilligte. Markus drehte sich trotzdem nicht um, und behielt auch Recht: Das zu erwartende dumpfe Aufprallgeräusch trat nicht ein. Die Sache wurde bald langweilig, und Felix war schon damit beschäftigt, sich Sand zwischen den Fingern durchrieseln zu lassen. Markus hatte sich wieder niedergelassen und beobachtete seinen kleinen Bruder. Das Rieseln war nicht ziellos, wie er zuerst geglaubt hatte, obwohl es Felix auch ziemlich genoss. Darüber hinaus aber, häufte er Sand, den er rundherum aufgehoben hatte, an einem Platz an, sodass um den Haufen ein Graben entstand. Jetzt wollte er einen Turm daraus formen, doch der Sand war zu pulvrig. Ohne des misslungenen Bauwerks weiter zu gedenken und ohne auch nur eine Miene zu verziehen, verlangte Felix, dass man weitergehe, auf das Gebirge zu.

Endlich wuchs das Gebirge in ihren Augen.

„Da Vinci hat es auch nie lang am selben Ort gehalten“, meinte Markus unernst.

Felix zeigte sogar mit dem Finger einer ausgestreckten Hand auf das Gebirge. Markus fand das überaus drollig. Um sich einen noch größeren Spaß zu machen, legte er die andere Hand auf den Bauch des Kleinen, während dieser weiterhin auf die Berge zeigte.

„Na, veni, vidi, vici, unser kleiner Napoleon überquert die Alpen“, sagte Markus und sah Felix dabei in die Augen, ein bisschen mit dem Kopf wackelnd.

Zornig zog Felix sein Gesicht zusammen und verengte die blauen Augen zu Schlitzen. Markus jedoch konnte dies nur noch viel mehr amüsieren. Er lachte laut, laut und lang. Dann aber wurde er ernst, setzte den Bruder wiederum auf seine Schultern, sagte ehrfurchtsvoll: „Mon Général!“ und begann den Marsch auf die weit entfernten und wild gezackten Berge hin.

Während sie gingen, gewann der Mond endlich sein angestammtes silbriges Weiß. Sterne scharten sich endlich am Himmel. Doch Markus und Felix waren nicht in der Stimmung, im Glück einer Sommernacht zu schwelgen. Sie waren ernst und still. Und sie sorgten sich und waren unruhig, als näherten sie sich einem entscheidendem Augenblick oder als wären nur noch wenige Schritte möglich, bevor jede Rückkehr ausgeschlossen war. Die beiden fassten dies nicht als klaren Gedanken, sondern vielmehr zog eine unbestimmbare Kraft sie an ihren Kleidern zurück, sodass ihr Gang schwer wurde, und er wurde immer schwerer mit jeder Minute, die verstrich. Markus‘ Füße schleiften durch den Sand der Wüstennacht. Felix wollte ihn zuerst zwicken, sah aber gleich darauf keinen Sinn mehr darin. Sie wünschten, sie hätten sich am Brunnen erfrischt haben können. Doch da war die seltsame Entscheidung bereits gefallen und ihr Tritt beschleunigte sich wieder.

Endlich wuchs das Gebirge in ihren Augen. Je deutlicher sie es sahen, umso mehr konnten sie an Klüften und Spalten und Vertiefungen wahrnehmen. Schnee schien in Richtung manchen Gipfels zu liegen. Dagegen näherte sich ein Vorgebirge, dessen Wand flach und einförmig abgeschrägt war wie die Mauer einer Festung. Matt bot sich eine lehmig-hellbraune Farbfläche dar. Markus und Felix traten auf sie zu, unerschrocken und interessiert, ja fast amüsiert, bis sie sich so übermächtig vor ihnen auftat, dass die Berge dahinter verschwanden. Trotzdem fing Felix an, sich zu sorgen, ob sie nicht vor einem Hindernis standen, das sie, mochten sie fröhlich und mutig sein, wie sie wollten, nicht überwinden konnten. Er ließ Markus halt machen und sie spähten nach einem Weg. Sie sahen eine Stelle, nicht gerade in der Nähe, die wie eine Unterbrechung in der Mauer wirkte. Dort öffnete sich ein Tal vor ihnen, schmal, sehr schmal, eine lange Flucht, die sich erst an ihrem Ende zum eigentlichen Gebirge hin verbreiterte.

Am Eingang des Tals trat ihnen eine merkwürdige Kreatur entgegen. Auf dem Körper einer Löwin, glänzendes, schönes Fell, saß der Kopf einer Frau, glänzende, schöne Haut, weißlich vom Mondlicht. Die Kreatur bewegte sich nicht und starrte die Brüder an. Das Haar war auf dem Kopf zusammengesteckt, nur einzelne Locken fielen herab, und die Nase war gerade. Sie senkte die Lider etwas, und das Gesicht wurde friedlich und verträumt. Es war nichts Feindliches mehr an dem Geschöpf, und umso weniger verstanden Markus und Felix ihre Lage. Als sie vorsichtig vorbeigehen wollten, schüttelte sie den Kopf.

„Zuerst müsst ihr mir eine Frage beantworten“, sagte die Sphinx abwesend vor sich hin.

„Gut“, sagte Felix.

„Was ist am Morgen eine Ankunft mit Frohsinn, zu Mittag ein Aufenthalt mit Trübsal und am Abend ein Abschied mit Hoffnung?“, fragte die Sphinx, als spräche sie mit dem Sand der weiten Wüste.

Eine Wolke, wattig weiß, passierte den Mond. Markus fand die Sache recht absurd und komisch. Denn erstens hielt er Rätselraten für blödsinnige Kinderei und zweitens schien ihm eine Antwort überflüssig weil man das Wesen, das zwar einen Löwenkörper, aber kein Löwengebiss hatte, einfach zur Seite hätte schieben können, um den Weg fortzusetzen. Darum sagte er lachend: „Mit wievielen Buchstaben?“

Der ernste Felix gab seinem Bruder einen Klaps auf die Schläfe und sprach zur Sphinx: „Der Mensch.“

Die Kreatur schloss sanft die Augen und nickte. Dann trat sie beiseite. Markus und Felix passierten ohne weitere Worte. Für Markus hatte die Antwort das Rätsel nicht gelöst, sondern eher erschwert. Dennoch war er stolz auf seinen Bruder und trug ihn umso leichter auf seinen Schultern, als die beiden ihren Weg fortsetzten.

Markus schnitt sich den Fuß auf. Stehenbleiben hatte jedoch keinen Sinn.

Das leere Tal lief breit aus. Nun sahen sie wenigstens ein paar trockene Büsche, die vor ihren Füßen wuchsen. Vor ihnen hob aber auch das Gebirge an. Zunächst wirkte es wie ein riesiger Erdhaufen, dessen natürliche rotbraune Farbe der Mond in ein verdünntes Graublau verwandelt hatte. Markus und Felix gingen zunächst gerade darauf los. Zahllose kleine Steine und Geröll machten den Weg schwierig. Markus schnitt sich den Fuß auf. Stehenbleiben hatte jedoch keinen Sinn.

Auch wurde der Berg steiler und bald so steil, dass die beiden einen anderen Pfad suchen mussten. Gerade wo sie ihn fanden, und er würde schwer genug zu bezwingen sein, da ließen sie auch den letzten Busch hinter sich. Felix merkte nun, wie Markus‘ Ächzen beständig zunahm, und wie er immer schwerer und langsamer vorankam. Der Pfad war zu einem Hohlweg geraten, und der Hohlweg schließlich zu einer tiefen Schlucht. Die Brüder schienen sich im Gebirge zu verlieren, wie zwei Federn, die ein einsamer Bootsfahrer mitten im Ozean in den Sturmwind geworfen hatte, auf dass sie, wohin auch immer, möglichst weit flögen. Der Mond leuchtete ihnen nicht mehr, denn je mehr sie aufstiegen, umso tiefer waren sie unten in der Schlucht gefangen.

Markus fürchtete niederzufallen und fürchtete dabei vor allem um den Kleinen. Er musste ausruhen. Und dies aus bloßer und gedankenloser Ermüdung, ohne den Hintergedanken, nur zu Kräften kommen zu wollen. Er setzte sich auf einen Felsblock und stellte Felix neben sich.

„Ich wünschte, wir hätten beim Brunnen etwas trinken können“, sagte Markus.

„Vergiss doch den Brunnen!“

„Ich bin erschöpft.“

„Ach, ein bisschen müde vielleicht“, versuchte Felix zu beschwichtigen.

„Es ist zu viel für mich. Das ist es einfach.“

„Du hast mich allein durch ganz Ägypten getragen, bist auf die Pyramide geklettert, stürmst den halben Berg mit blutigen Füßen – da willst du aufgeben?“

Markus starrte nur vor sich hin. Kaum eine Armlänge entfernt lag die Felswand, die er jedoch in der Finsternis nur erahnen konnte.

„Ich habe einen Weg eingeschlagen, über den ich keine Sekunde lang nachgedacht habe. Ich habe meinen kleinen Bruder zum Tode verurteilt.“

„Blödsinn! Wenn es nach der Mutter gegangen wäre, läge ich jetzt noch im Bettchen, sabbernd und kreischend und sonst nichts.“

„Aber es ginge dir gut.“

„Blödsinn!“ Felix wurde ernsthaft zornig. „Steh jetzt auf, wir gehen weiter. Ich werde vorangehen.“

„Wie willst du das machen? Schau dir den Weg doch an!“

In der Dunkelheit war nichts zu sehen.

„Ich bin sehr geschickt“, bestand Felix.

Markus war nun unschlüssig statt resigniert. Aber Felix war ihm schon weit voraus. Er setzte den Aufstieg fort. Was für Markus nicht mehr als ein großer Schritt war, das war für ihn eine Kletterpartie. Markus konnte nicht anders, als ihm zu folgen. Zuerst hatte er Felix wieder aufnehmen und ihm für den Ansporn danken wollen. Doch er war zuviel damit beschäftigt mit dem Kleinen Schritt zu halten. Felix schien für diesen finsteren, felsigen und abweisenden Berg so geboren wie ein Steinbock. Auch war er nicht so klein wie zu Beginn ihrer Flucht. Flink und schwungvoll kletterte er voran.

„Nimm doch ein bisschen Rücksicht auf meine zerschundenen Füße, ja?“, sagte Markus, und Felix lachte, jedoch ohne Hohn.

Bald schwanden die Felswände um die beiden unermüdlichen Brüder. Sie waren den Sternen am Himmel wieder näher, und das Mondlicht erhellte endlich ihre Schritte. Um eine kleine Kurve blickend sah Felix den Ausgang der Schlucht. Er drehte sich zu Markus um, der wieder einige Schritte zurückgefallen war. Er streckte ihm den Arm entgegen und flatterte mit der flachen Hand. Markus beeilte sich. Er hatte viel von seiner Kraft zurückgewonnen.

Nach dem Verlassen der Schlucht allerdings, standen sie vor einem Anblick, der jeden außer Felix entmutigt hätte. Die beiden höchsten Gipfel des Gebirges bauten sich vor ihnen auf, schneebedeckt und in jenen wilden und wahnhaften Zacken, aufragend in einem unerträglichen Gewirr. All dies hatten sie schon aus der Ebene gesehen. Es gab keinen anderen Weg, als denjenigen zwischen den beiden Gipfeln, den sie sich als Passstraße erschließen würden müssen. Felix starrte hinauf. Was er sah an Höhe und Schnee und Fels und weißem Mondlicht war ihm so schrecklich und so vertraut, wie es der Blick in den Spiegel gewesen wäre, wenn er ihn nur je einmal getan hätte. Markus schloss zu ihm auf.

„Worauf wartest du?“, sagte er zu dem Kleinen.

Ihm ins Gesicht blickend waren Markus die blauen Augen des Bruders das Nächste auf der Welt. Felix ging voran. Seine Schritte waren forsch und gerade.

Erstmals erschienen in: Phantastische Erzählungen 583e/2016