Ein hohles Licht

Siamo contenti? Son dio, ho fatto questa caricatura.

(Nietzsche)

Anton erwachte um vier Uhr in einem schwarzen Zimmer. An einem verschwindend leichten kalten Hauch auf den Lidern erkannte er, dass seine Augen weit geöffnet waren. Stück für Stück fand er sich im Raum wieder zurecht. Hinter der Jalousie glühte schwach der Schein einer fernen Straßenlaterne gemischt mit dem grauen Leuchten des halben Mondes. Anton wollte nicht mehr schlafen; ohnehin hatte er den Wecker auf früher gestellt als immer sonst. Neben ihm war das Bett leer. Das entblößte Laken, weiß, war die am wenigsten dunkle Stelle im Raum. Anton legte die Hand auf den zweiten Kopfpolster, ebenfalls weiß überzogen und ebenfalls leer. Er rührte die Hand nicht, sanft und verzweifelt. Er ließ sie dort lange ruhen und starrte ins finstere Zimmer, dessen Einrichtung umrisshaft sichtbar wurde. Anton nahm die Hand vom Polster. Noch unter der Decke liegend glitt er sich damit zärtlich über den Körper hinab. Ob der sachten Berührung, gerade über der Haut schwebend, durchfuhr ihn ein kühler Schauer, vom Nacken in die Glieder, ein Schauer wie jener Rest von Mondlicht blass. Plötzlich richtete er sich im Bett auf und tat einen raschen, lufteinsaugenden Atemzug. Dann legte er sich wieder hin und legte den zweiten Polster, den leeren, auf sein Gesicht. Die Hände legte er oben drauf, drückte aber nicht zu. So verblieb er, die Augen dabei offen, ohne dass sie irgendwohin blicken konnten.

Müsste ich Sie bitten, im Interesse der Patientin, natürlich, leider, vorläufig von weiteren Besuchen abzusehen

Anton wartete. Auf nichts. Es wurde sehr warm unter dem Polster. Er warf ihn von sich: matt und geräuschlos, beinah, fiel der Polster gegen die Wand. Der Strahl der aufgehenden Sonne hatte sich irgendwie in das Zimmer gestohlen.

„Ich kann genausogut anfangen“, sagte Anton. Doch seine Stimme verpuffte und eine Sekunde später zweifelte er, ob er seinen Gedanken überhaupt laut ausgesprochen hatte.

Das Zimmer war kühl: gestern hatte Anton für das ganze Haus die Heizung abgedreht. Er öffnete die Jalousie. Rotes Licht flutete den Raum, schummrig, wie in einem rund-verschlossenen Goldfischglas gebrochen. Rot färbte es auch Antons baren Körper. Er sah diesem Licht entgegen, dorthin, wo die Sonne sich erheben wollte über einem leeren, aschgrauen Feld. Irgendetwas flog hoch in der Ferne. Anton konnte es nicht bestimmt erkennen. Er wusste, es war ein Engel. Plötzlich war das Wesen viel näher gerückt und mit ausgebreiteten, sanft und fein gefiederten Schwingen glitt es auf Anton zu. Sein weißes, bläulich durchsichtiges Antlitz wurde erkennbar. Braun durchwirktes, grausam goldenes Haar umrahmte es leuchtend schön. Doch gestrenge zusammengezogen war die Stirn des Engels, als spräche er ein Urteil aus und als wollte er sagen: das Härteste allein ist das Edelste. Und er kam weiter auf Anton zu, und Anton war, als hätte er verstanden. Dann schaltete er das Licht ein und kleidete sich an.

Es war noch einige Zeit hin, bis seine Söhne aufstünden. Der Bus des dreizehnjährigen Daniel ging um 7 Uhr 22, und Lukas arbeitete als Koch überhaupt erst mittags. Anton stand in der Küche vor einem großen Laib Brot. Vor drei Tagen gekauft, lag er noch unberührt da. Er berührte ihn, tappte mit seinen Fingern leicht auf das dünne Mehldeckchen. Daneben lag das Brotmesser, Anton meinte einen Augenblick, sich darin zu spiegeln. Er wusste jedoch, er würde keinen Bissen herunterwürgen können. Anton blickte zur Kaffeemaschine. Eine teuflische Angst erfasste ihn, beim Gedanken an das Gurgeln des Geräts, eine solche Angst, dass er sich am Griff des Kühlschranks festhalten musste. Der Griff brach ab.

Es war auch nichts vorzubereiten, für Daniel nicht, der sich um sein Müsli selbst kümmerte, und für den Koch schon gar nicht. Anton wunderte sich ernsthaft, warum seine Frau immer so früh aufstand.

Er hatte sie vor zwei Tagen zum letzten Mal gesehen.

Anton fürchtete die Strafe für seinen Unfug und stolperte weiter, so schnell er konnte.

„Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen nahebringen soll“, sagte der Arzt vorsichtig, denn er sah die Nervosität wie aus Antons Poren dampfen, „doch mein Kollege und ich sind uns einig, dass beim derzeitigen Zustand Ihrer Frau, wenn man alles bedenkt, wenn man ihre Diagnose bedenkt, und wenn man, natürlich, leider, bedenkt, was soeben vorgefallen ist, im Krankenzimmer, wenn man also das alles bedenkt, dann – ich unterstütze hier voll meinen Kollegen – müsste ich Sie bitten, im Interesse der Patientin, natürlich, leider, vorläufig von weiteren Besuchen abzusehen. Vielleicht wäre überhaupt jeder Familienbesuch im Moment für die Patientin zu … aufregend.“

„Ja“, sagte Anton und flüchtete.

Das Wort „Patientin“ flößte ihm fürchterliche Angst ein. Er lief einen langen Korridor hinunter, gehetzt vom Blick des Arztes, den er auf sich wusste. Unter dem siechen Weiß des Neonlichtes. Entlang des undurchdringlichen Weißes der weißgestrichenen Wände. Vorbei an den zerfasernden weißen Kitteln der Krankenschwestern. Vorbei an tausend glatt-weißen Türen. Hinter jeder verbarg sich ein kreischender Irrer in der weißen Zwangsjacke. In einem kranken, schrillen Zwielicht vermischte sich alles zu einem nach Anton greifenden Arm, der als krampfend ausgestreckte bleiche Hand auf ihn zukam. Er sprang, links, rechts, wollte ihr ausweichen. Da stieß er einen Pfleger an und taumelte. Mit den Armen herumfahrend riss er ein Tuch vom Wagen, den der Pfleger schob. Der grünlich-weiße Leichnam eines Mannes lag offen da, doch war sein Gesicht unerkennbar. Anton fürchtete die Strafe für seinen Unfug und stolperte weiter, so schnell er konnte. Sicher hatte ein Arzt ihn gesehen, und sicher hatte dieser Arzt zehn Spritzen in der Tasche für einen solchen Fall, zehn Spritzen, zehn Nadeln, lang, spitz, dünn, dick, glänzend. Endlich konnte sich Anton um eine Ecke werfen. Durch ein Fenster am Ende dieses kurzen Seitenganges schien die Sonne.

Er gratulierte sich zu der vernünftigen Entscheidung, den Söhnen einen Besuch verboten zu haben. Auf die Nachfrage seiner Frau hatte er keinen Grund nennen können, weil er keinen wusste.

„Ich habe Recht“, wollte er zu sich selbst sagen, als er merkte, dass er dafür nicht den Atem hatte.

Anton stieß sich von der Wand ab. Traumhaft und wirr stolperte er vorwärts. Seine Stirn lehnte am Fenster. Nach einigen fast blinden Momenten hatten sich seine Augen an das Sonnenlicht gewöhnt. Durch die dunkelgrünen, langgebogenen, spitzen Nadeln der Kiefern hindurch schien es durch, und obwohl nur im ersten Stock, wollte ein Schwindel Anton überkommen. Er trat zurück.

„Geht es Ihnen gut?“, fragte eine Frauenstimme. Der äußerste Schrecken durchfuhr Anton, sodass er den Atem wieder verlor und er die Finger aufs äußerste gespannt krümmte, dass sie wie Haken und Zacken krampfartig waren. Er befürchtete, sich wieder unter den Blicken des Klinikpersonal unerlaubt verhalten zu haben. Als er aber scheu nach hinten spähte, da sah er eine junge Frau in Straßenkleidung. Er nahm sie für eine andere Besucherin, und sie verließen zusammen das Gebäude, ja verabschiedeten sich erst bei der Bushaltestelle gleich außerhalb des Hospitalgeländes. Anton fuhr mit dem Auto zurück ins Büro. Mit unendlicher Deutlichkeit erfasste er alle Brems- und Blinklichter im Verkehr. Er meinte die unsichtbarsten Kratzer an den Wagen des Gegenverkehrs wahrzunehmen. Er meinte an den Mundwinkeln die Stimmung der noch am flüchtigsten erblickten Passanten zu erkennen. Er meinte vorhersagen zu können, ob der Fahrer vor ihm nun abbiegen würde. Im Büro, schließlich, sah er aus einem Stapel Papier einen Zettel hervorstehen. Er hatte dieses Dokument seit einer Woche gesucht.

Die Polizei hat den Tathergang rekonstruiert.

Anton hörte die Tür des Kinderzimmers sich öffnen. Noch immer stand er neben dem niemals angeschnittenen Laib Brot. Schließlich kam Daniel zum Küchentisch. Sie sagten einander guten Morgen. Anton schaltete die Lampe aus, weil es bereits hell war. Es war etwas Hohles in diesem Licht, das nicht mehr das Licht des Morgens war. Die Tür zum Kinderzimmer stand offen, auch die zum Vorzimmer, und auch der Treppenaufgang. Daniels leere Schüssel und Daniels leeres Glas standen auf dem Tisch. Er füllte das Müsli ein, wollte die Milch einfüllen, doch die Packung war bald ganz leer. Er blickte seinen Vater fragend an. Da nahm dieser das sauber spiegelnde Brotmesser und ging wild auf Daniel los. Mehrfach erwischte er ihn, brachte ihm Schnitte und Stiche bei. Beide schrien. Daniel schlug um sich und entkam; während er ins Vorzimmer stürzte, da stolperte der Vater und fiel zu Boden. Durch Blut in den Augen war Daniel wie blind. Verzweifelt und mit der Kraft des Irrsinns rüttelte er an der Haustür. Sie war jedoch verschlossen, er hätte den Schlüssel finden müssen, aber solches verstand er nicht mehr. Anton, noch am Boden liegend, stützte sich mit dem Ellbogen ab und fand sich sofort wieder zurecht. Mit einem zum ersten Mal gebrochenen und zu dickrotem Blut zerfließenden Herzen schrie er: „Na! Du tuast mir do leid!“

Dann tötete er den Dreizehnjährigen, der als Toter noch die Türklinke umklammerte. Lukas, im Obergeschoss schlafend, war durch das Geschrei nicht geweckt worden. Anton suchte rasch nach dem schärfsten und am wenigsten biegsamen Messer in der Küche. Damit brachte er den älteren Sohn um, in seinem Bett. In der Badewanne öffnete sich Anton die Adern.

Lukas hatte einen Arbeitskollegen: Ebenbauer. Da Lukas im Restaurant nicht erschien und auf Anrufe nicht antwortete, fuhr Ebenbauer zum Haus. Niemand rührte sich dort; aber durch das Fenster neben der Tür sah er eine Blutlache im Vorzimmer. Ebenbauer wusste, unter welchem Blumentopf ein Schlüssel versteckt war.

Die Polizei hat den Tathergang rekonstruiert. Der stellvertretende Leiter des Landeskriminalamtes, Christoph Hasenauer, hat ihn den Medien erklärt. Das Motiv ist jedoch weiterhin unbekannt. Doch Österreich ist geschockt. Die Bewohner von Rotstätten sind fassungslos: niemand hätte es sich vorstellen können. Der Bürgermeister, Hannes Edinger, sagt, „ich verstehe die Welt nicht mehr“.

Erstmals erschienen in: Phantastische Erzählungen 583e/2016