Ich bin im Zug
Günther hatte ein Buch aufgeschlagen, in dem er nicht las. Der Zug floß langsam dahin, umgeben von Feldern und Weinbergen in der Kühle. Über den Hügeln lag der Nebel. Das Zuginnere jedoch war hellbeleuchtet, befüllt und belebt; darum konnte Günther auch nicht lesen.
Zuerst schielte er zur Frau neben sich, die gerade ihr eigenes Buch weggelegt hatte, um in ihrer Handtasche zu wühlen. Sie las: „Commissario Pantalonis dreizehnter Fall: Signora Pantaloni unter Verdacht“ von Franceschina Ferratocorvottocarotto.
Ein Phänomen, und es fuhr einfach mit Günther im selben Zug.
Günther schräg gegenüber saß ein Mann. Er war wie ein Kunstwerk vielfacher, subtil aufeinandergefläzter nasser Fetzen, oder als hätte sich ein Maler die kubistische Synthese einer wassertriefenden, halb zergatschten Semmel vorgenommen. Es gab nichts an dem Mann, das nicht schlabbernd weiter aushing, als es sollte: Seine überladenen Backen mit ungepflegten Barttupfern, tyrannisierten gnadenlos das gesamte Gesicht, aus dem feig und versteckt irgendwo die knopfigen, blauen Äuglein und die ferkelhafte Nase hervorlugten. Seine Oberschenkel, eng in der Hose steckend, ja verzweifelt herausplatzen wollend, waren wie zwei enorme, jedoch verformt geschmolzene Tonnen, die unmittelbaren aus einem hüftlosen Oberkörper sich blähten. Wie unfassbar kindlich dagegen die Füßchen, wie müßig und schwächlich die Unterschenkel, von denen man nicht vermuten konnte, das sie tatsächlich den wabernden Kolossus durch sein Leben zu tragen vermochten. Ein Phänomen, und es fuhr einfach mit Günther im selben Zug. Dabei war der Mann still, drehte nicht einmal den Kopf; für das Vorhandensein eines Halses gab es keinen Anhaltspunkt.
Jäh wurde Günther aus den nächsten Leseversuch gerissen, als eine sanfte Frauenstimme durch die Lautsprecher erklang, sanft und regelmäßig zu den Fahrgästen sprechend: „Nächster Halt: Mödling. Next stop: Mödling. Vorsicht beim Aussteigen: Zwischen Zug und Bahnsteig ist ein Spalt. Bitte setzen beim Gehen einen Fuß vor den anderen in einem gemäßigten Abstand. Mind the gap.“ Und nach einer sehr kurzen Pause: „Für ihre Anschlusszüge bitte beachten Sie die Monitore, Hinweistafeln und Aushänge am Bahnsteig. Die Österreichischen Bundesbahnen halten Sie für zu blöd zur Entsorgung Ihrer eigenen Fäkalien. Please defecate only in areas indicated as serving a purpose of this kind.“
„Kann ich bitte die Fahrkarte anschauen?“
Schließlich, der Zug wurde noch nicht langsamer, näherte sich der Schaffner. Er war in seinen Vierzigern, wie Günther schätzte. Seine grauen, eher schütteren Haare waren zu einem recht langen Pferdeschwanz gebunden, und ruhig, aber ohne Ordnung, wie ein langsam fließendes Gewässer, ging er, die Fahrgäste befragend und beäugend, den Mittelgang hinunter. Er kam zu Günther und sagte: „Kann ich bitte die Fahrkarte anschauen?“ Als er sie zurückgab, lächelte er süßlich, die Augenlider nur halb hochgezogen.
Der Zug hielt in Mödling und fuhr wieder ab. In der Sitzreihe hinter Günther saß eine laut sprechende Frau. Sie telefonierte, und dies mit einem Eifer, dass es sich um nichts anderes handeln konnte, als das Leben ihres Kindes, einen Brand ihres Hauses oder irgendeine andere fatale Katastrophe am anderen Ende der Leitung.
„Ur lustig hahaha“
„Nein, du, ich werd ihm den Pulli nicht umtauschen – Was heißt verstehen?! Weißt du was er gmacht hat? Ich mein was er gsagt hat? Du ich mein ich schenk ihm den Pulli und ich mein wenn du wem ein Pulli schenkst des is doch schön! – Ja, aber weißt du was er gsagt hat? Gleich nachdem dass er ihn kriegt hat? Den kömma schon ‚umtauschen‚? ‚Umm – tau – schnn‘ -“ Nicht nur zog sie bei diesem Wort die Silben in die Länge, sie ging auch bei der ersten mit der Stimme nach unten und bei der zweiten nach oben, um schließlich donnernd und krachend ins „schnn“ zu fallen, wo sie das n in die Länge zog, als wollte sie noch den schlammigsten Bodensatz unserer Sprache hervorkratzen und aufwühlen. Und wie kann man eigentlich bei einem au mit der Stimme raufgehen? Wer besitzt die finsteren Hexenmächte, um diesen Laut, der in der Hochsprache voll und klar klingt, einen eleganten, gemessenen Aufschwung gibt, ober aber im Dialekt dämmrig und verwaschen dahinrollt, aber in beiden Fällen nicht das geringste von Schrillheit an sich hat, in solche Tonhöhen zu bringen? Eine frühpensionierte Sekretärin aus der Kleinstadt, keine Frage. Und während ihre Ehemänner den Alkohol haben, sie haben das Telefon. Und wo man dieses nun, seit zwei Dekaden, überallhin mitnehmen kann, da gibt es für diesen Menschenschlag keine Regentage mehr. „Sofort praktisch hat er’s gsagt“, sagte sie weiter, „ja zerscht hat er halt blöd gschaut – Aber was heißt was meinst du ‚verstehen‘? ‚Veer – steeh – nn‘? Höö? Das kannst du doch keinem sagen wann er dir was schenkt dass er’s gleich umtauschen sö. Ich mein ich tu ihm ja was Gutes weil er auch Geburtstag hat und so – Jaaber wart … wart … wart – Wieso? Da kommt ein Tunnel und weißt eh mit der Verbindung -“ Die Verbindung riss, und in Günthers Innerem löste sich ein krass angespannter Knoten, wie bei andern unter den Wundern der Hostie. Doch die gelichtete Erlöstheit des Tunnels ebenso wie Günthers sekündlicher Winterschlaf der Seele währten nicht lange. Es läutete bei der Frau hinter ihm, ein zittriges Klingeln, den alten Telefonen nachempfunden. „Ah Hallo! Und dann hat er – Asso du bists. Ich hab glaubt du bist die Mimi. Weil mit der hab ich gredt wie wir in Tunnel gfahren sind und weißt eh mit die Verbindung. Hab ich glaubt du bist die Mimi. Ur lustig hahaha – Ich bin grad im Zug. Fünf Minuten bin ich Vöslau. – Ich hab mit der Mimi grad übern Geri gredet. Ich hab ihm ein Pullover kauft zum Geburtstag und so jetzt will er dass ich ihn umtausch! Nur weil er rosa is! Und die Herzerl drauf des is so ein Muster sind eigentlich auch ur süß! – Ja ich zeig ihn dir amal. Und du weißt du ich mein ich glaub er gwöhnt sich eh noch dran…“ Also sprach die Sekretärin; und sie sprach ohne Ende, denn „jede Lust will Ewigkeit“, und nun fand sie „tiefe, tiefe Ewigkeit“. Der Philosoph wird hier also über nichts schockiert sein. Bloß Günther sehnte sich nach einer Peitsche. Da er jedoch niemanden gern peitschen wollte, ging er rasch zu einer möglichst weit entfernten Tür, um dort den Halt des Zuges abzuwarten. Eine Durchsage kam, diesmal vom Schaffner, in engelhafter Zärtlichkeit geflüstert: „Unsere Reise führt uns jetzt nach … Baden. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl auf unserem Zug nach … Wiener Neustadt- … Hauptbahnhof.“
Günther trat hinaus, in die kühle, feuchte Luft und ließ den Strom der Aussteigenden vor sich hinfließen. Kein Windhauch wehte, und nichts rührte an der dunstigen, trüben Wolkendecke, von der man, unter streuselhaftem, dünnem Nebel hergehend, nicht sagen konnte, wo sie überhaupt begann.
Erstmals erschienen: LOG – Zeitschrift für Internationale Literatur 140/2013